Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
meiner Kräfte. Wir müssen alle natürlichen Erklärungen ausschöpfen, ehe wir uns auf eine solche Annahme zurückziehen. Was Sie betrifft, Mr. Tregennis: Ich nehme an, daß Sie irgendwie von Ihrer Familie getrennt worden sind, da die anderen miteinander lebten, während Sie zur Miete wohnen.«
»Das trifft zu, Mr. Holmes, jedoch ist der Grund dafür vorbei und vergessen. Wir entstammen einer Familie von Zinnbergwerksbesitzern in Redruth, aber wir haben das Unternehmen an eine Gesellschaft verkauft und uns mit genügend Ver mögen zurückgezogen, unser Leben zu bestreiten. Ich leugne nicht, daß es zwischen uns einige Unstimmigkeiten wegen der Teilung des Geldes gegeben hat, und das stand eine Zeitlang zwischen uns, aber nun war alles vergeben und vergessen, und wir waren in bestem Einvernehmen.«
»Wenn Sie auf den gemeinsam verbrachten Abend zurückblicken, gibt es da etwas in Ihrem Gedächtnis, das möglicherweise Licht in die Tragödie bringen könnte? Überlegen Sie genau, Mr. Tregennis, suchen Sie nach jedem Anhaltspunkt, der mir helfen könnte.«
»Da gibt es überhaupt nichts, Sir.«
»Ihre Familie war in der gewohnten Stimmung?«
»Sie war nie besser gelaunt.«
»Waren es nervöse Leute? Fürchteten sie eine drohende Gefahr?«
»Nichts dergleichen.«
»Dann haben Sie nichts hinzuzufügen, das mir weiterhelfen könnte?«
Mortimer Tregennis überlegte einen Augenblick ernsthaft. »Eines fällt mir ein«, sagte er schließlich. »Als wir am Tisch saßen, war mein Rücken zum Fenster gekehrt; mein Bruder George war mein Spielpartner und saß mit dem Gesicht zum Fenster. Ich bemerkte, wie er einmal angestrengt über meine Schulter starrte, deshalb wandte ich mich um und blickte auch dorthin. Die Jalousie war hochgezogen und das Fenster geschlossen, aber ich konnte die Büsche auf dem Rasen erkennen, und für einen Moment schien es mir, als be wegte sich etwas in ihnen. Ich könnte nicht einmal sagen, ob es ein Mensch oder ein Tier war, aber ich dachte, etwas ist da. Als ich ihn fragte, wonach er ausgeschaut habe, sagte er mir, er hätte das gleiche Gefühl gehabt. Das ist alles, was ich Ihnen mitteilen kann.«
»Sie haben nicht nachgeforscht?«
»Nein, der Zwischenfall wurde als unwichtig vergessen.«
»Dann haben Sie Ihre Familie ohne Vorahnung von etwas Bösem verlassen?«
»An so etwas dachte ich überhaupt nicht.«
»Ich bin mir nicht ganz im klaren darüber, wie Sie die Neuigkeiten so früh am Morgen erfahren konnten.«
»Ich bin Frühaufsteher und pflege vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Heute war ich kaum losgegangen, als mich der Doktor in seiner Kutsche einholte. Er erzählte mir, daß ihm die alte Mrs. Porter einen Jungen mit einer dringenden Mitteilung geschickt habe. Ich sprang neben ihn, und wir fuhren weiter. Wir kamen hin und sahen das schreckliche Zimmer. Die Kerzen und das Feuer mußten vor Stunden schon ausgegangen sein; dann hatten sie bis zum Einbruch der Dämmerung im Dunkeln gesessen. Der Doktor sagte, Brenda müsse seit mindestens sechs Stunden tot sein. Anzeichen von Gewaltanwendung gab es nicht. Sie lag nur über der Seitenlehne des Sessels, mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht. George und Owen sangen Liedfetzen und schnatterten unverständliches Zeug wie zwei große Af fen. Das war schrecklich! Ich konnte es nicht aushalten, und der Doktor war weiß wie ein Laken. Er fiel denn auch in eine Art Ohnmacht, und wir hätten uns fast noch um ihn kümmern müssen.«
»Merkwürdig – höchst merkwürdig!« sagte Holmes, stand auf und nahm seinen Hut. »Ich glaube, es ist doch am besten, wir gehen ohne weiteren Aufschub nach Tredannick Wartha. Ich gestehe, daß mir selten ein Fall begegnet ist, der auf den ersten Blick ein ausgefalleneres Problem geboten hätte.«
Unsere Bemühungen an diesem Morgen trugen wenig zur Aufklärung bei. Aber sie waren durch einen Zwischenfall gekennzeichnet, der einen äußerst düsteren Eindruck auf mich machte. Um an den Ort der Tragödie zu gelangen, mußte man einen engen gewundenen Feldweg benutzen. Als wir so dahingingen, hörten wir das Rasseln eines entgegenkommenden Wagens, und wir traten zur Seite, um ihn vorüberzulassen. Es gelang mir, einen Blick durch die geschlossenen Fenster zu werfen, und ich gewahrte ein Gesicht, das uns fürchterlich verzerrt entgegengrinste. Diese starren Augen und diese mahlenden Zähne zogen wie eine Schreckensvision an uns
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