Der letzte Tag: Roman (German Edition)
eigenartig. Ihm war schwindelig und unwohl. Er vermisste den weiten Himmel und die Lebendigkeit der Straßen der Altstadt. Sein Magen hob und senkte sich nervös. Er schob es auf den Schlafmangel, ließ dann aber den Gedanken zu, dass er einfach nur nervös war, weil er wusste, dass er in Kürze etwas sehen würde, das nicht gut für ihn war.
»Und nun, fürchte ich, muss ich Sie durchsuchen«, sagte Pieter ohne den leisesten Anflug von Ironie.
»Entschuldigung?«
»Die Familie besteht darauf. Heutzutage gibt es ja sehr kleine Kameras. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich.«
»Wer ist denn diese Familie eigentlich?«
Pieter legte den Zeigefinger an den Mund. »Wächter. Sie sind nicht wirklich begeistert von ihrer Aufgabe. Aber das Bild wurde ihnen anvertraut, und das ist wichtig. Wenn Sie irgendwann wieder hierher zurückkommen, werden die Gemälde fort sein. Es ist auch nicht ratsam, sie zu lange anzuschauen. Vielen Menschen, die das getan haben, ist es hinterher nicht gut ergangen. Sie sind wahnsinnig geworden. Als die Familie das vor vielen Jahren erkannte, hat sie Maßnahmen ergriffen.« Er sah Kyle durchdringend an. »Darf ich?«
Kyle konnte nicht verhehlen, dass er verstimmt war. »Bitte sehr.«
Pieter untersuchte die Aufschläge von Kyles Lederjacke, seinen Kragen, den Gürtel. Er hockte sich hin und betrachtete die Stiefel. »Ihre Tasche müssen Sie hierlassen.« Kyle ließ sie von der Schulter gleiten und zu Boden fallen.
Pieter lächelte zufrieden, als er fertig war. »Gut. Jetzt können wir nach oben gehen.«
Sie passierten zwei Stockwerke, deren Türen, je eine auf jeder Seite, geschlossen waren. Durch das hell erleuchtete Treppenhaus gelangten sie auf den schmalen Treppenabsatz im oberen
Geschoss, wo zwei Personen eng nebeneinanderstehen konnten. Pieter tippte auf einem metallenen Display an der Tür eines zur Straße liegenden Zimmers einen Code ein. Er blickte über die Schulter, nickte Kyle zu und trat ein.
Geschlossene Metalljalousien hingen vor den Fenstern. Die Wände und die Zimmerdecke waren makellos weiß gestrichen, der Fußboden bestand aus Holzplanken. In jeder Zimmerecke standen Aluminiumstative mit großen Scheinwerfern, die Tageslicht simulierten. Von den Lampen gingen Kabel zu einem Mischpult. Die Lampen waren nach oben ausgerichtet, sodass kein direktes Licht auf die drei Holzgerüste fiel, auf denen die großformatigen Bilder standen. Jedes Bild wurde von einem schwarzen Tuch verdeckt. Hinter den drei Bilderrahmen standen drei schwarze Kästen, die aufgeklappt und innen mit Samt ausgeschlagen waren.
Pieter lächelte aufmunternd. »Kommen Sie.« Unter ihren Schritten knarrte der Holzfußboden. »Hier.« Er hielt Kyle knapp zwei Meter vor dem Triptychon zurück und sah auf die Uhr. »Schauen Sie sich das Bild auf der linken Seite an. Sehen Sie nicht nach rechts, bis wir so weit sind. Ich sage Ihnen wann.«
Kyle nickte. Die Gemälde wurden enthüllt.
Pieter drehte sich um und stellte sich neben Kyle. Beide blickten auf das dreiteilige Gemälde mit dem Titel »Die Heiligen des Schmutzes«.
Kyles Augen weigerten sich, nicht das ganze Kunstwerk anzuschauen, zu groß war die Versuchung. Jeder Teil des Triptychons war mindestens ein Meter zwanzig breit und genauso hoch, und alle waren dunkel, als wären sie verrußt. Inmitten der fleckigen Schatten waren die einzigen Details, die er wahrnehmen konnte, intensive rötliche Feuer in den ersten beiden Rahmen, die wie aufflammende Blitze wirkten. Das dritte Bild war wesentlich heller gehalten, es hatte die Farbe von Rauch.
»Sehen Sie das erste Bild. Ja? Es trägt den Titel ›Die Belagerung
von Jerusalem‹. Es zeigt den Anfang vom Ende von Konrad Lorche und seinen Blutsfreunden. Zumindest einen Teil davon.«
Kyle warf einen Blick zu Pieter, der zur Leinwand deutete und ihn aufforderte: »Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Kyle ließ seinen Blick von oben nach unten über das Erste der drei uralten Gemälde schweifen. Er sah den dünnen Streifen eines entfernten Himmels in Rot und Schwarz, der sich über eine ausgedörrte Ebene erstreckte, über eine Landschaft, die völlig vertrocknet oder gar verbrannt war. Im oberen Drittel des Bildes, unter dem stürmisch wütenden Himmel, hatte sich eine Armee mit Lanzen, Schwertern und glänzenden Stahlhelmen versammelt. Die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten drängten sich so eng zusammen, dass sie wie eine einzige Masse voranstrebten, über die Steinmasse einer eingestürzten Mauer
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