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Der letzte Tag: Roman (German Edition)

Der letzte Tag: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Tag: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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einen göttlichen Auftrag erhalten. Er scharte viele entwurzelte Menschen um sich, erst in Deutschland, dann in den Niederlanden. Wallonen, englische Protestanten im Exil, französische Hugenotten. Er zog mit seinen Anhängern herum. Predigte in Dörfern und Städten. Wurde oft verjagt. Sie kamen aus der Tradition der Taboriten und der Anabaptisten. Die entstanden so um 1530. Haben Sie davon gehört?«
    Kyle schüttelte den Kopf.
    »Diese Gruppen lehnten die Kirchenhierarchie und andere Autoritäten ab und wollten selbstständig sein. Sie hielten sich für Auserwählte. Andere Glaubensrichtungen akzeptierten sie nicht, weder die Lutheraner noch die Katholiken. Sie waren radikal und militant. Sie wollten durch Vermittlung ihrer Propheten, ihrer Führer, direkt mit Gott in Verbindung treten. Lorche hatte sogar die Belagerung von Münster überlebt. Er war ein Schüler von Jan Matthys und Jan van Leiden. Das waren die Führer der Anabaptisten oder Wiedertäufer, die damals die ganze Stadt erobert hatten. Sie haben dort ihr eigenes Reich ausgerufen. Und Lorche hat ihre Ideen weiterverbreitet. Er hat sie kopiert. Und wie die Anabaptisten wurde auch Lorche verfolgt. In Deutschland und in der Schweiz. Er hatte völlige Kontrolle über seine Anhängerschaft. Wir wissen nicht, wie viele es waren, aber es müssen einige Hundert gewesen sein.
    Irgendwann hat er seine Aktivitäten in die Gegend südlich von Utrecht verlagert, dann nach Gent und sogar nach London,
vor der Herrschaft von Queen Mary. Aber wichtig für uns ist, was mit ihm 1566 geschah. In diesem Jahr kam der Herzog von Alba mit zehntausend spanischen Soldaten nach den Niederlanden. Auf Befehl des spanischen Königs Philipp II. Er sollte die protestantischen Häretiker unterdrücken. Dieser Befehl wurde auch das ›Blut-Edikt‹ genannt. Lorche und seine Blutsfreunde wurden daraufhin verfolgt. Wieder einmal. Also flüchteten sie nach Frankreich, wo die Hugenotten, die französischen Protestanten, damals über sehr viel Macht verfügten. Lorche führte seine Anhänger, die sich Blutsfreunde nannten, im Jahr 1566 in einen kleinen Ort namens St. Mayenne. Dort erklärte er, dass er nicht mehr weiterziehen würde. Er und seine Anhänger seien die Letzte Zusammenkunft der Heiligen und seien hergekommen, um das Neue Jerusalem zu bauen.
    St. Mayenne war ein kleines Dorf mitten auf dem Land. Sie haben den Ort ja gesehen. Er war von einer Mauer umgeben, so wie Münster. Das passte zu Lorches Plänen. Auf diese Weise konnte er verhindern, dass jemand hereinkam oder eben heraus. Es gab außerdem eine eingeborene Bevölkerung von Bauern, von denen er glaubte, dass er sie von seiner Lehre überzeugen könnte. Von seinem Weg zur Erlösung. Der Ort existiert nicht mehr. Er hat ihn im Jahr 1566 umgetauft in Neu-Jerusalem.«
    Pieter warf Kyle einen prüfenden Blick zu und bemerkte sein Unwohlsein, das er mit einem leichten Kopfnicken zur Kenntnis nahm. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mithörte, lehnte er sich zurück und fuhr mit seiner Zigarette durch die Luft. »Sie kennen diesen Ort als Bauernhof. Dazu wurde er aber erst viel später, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aber früher war es tatsächlich ein kleines Städtchen gewesen. Ich bin auch einmal dort gewesen, das ist schon viele Jahre her. Und ich habe auf einem Feld in der Nähe noch einige Mauerüberreste gefunden.
    Damals im Jahr 1566 hatte Lorche Visionen. Die hatte er an
allen Orten, an denen er sich aufhielt. Er rannte nackt durch die Straßen. Er hatte Schaum vorm Mund. Er sprach im Namen Gottes. Behauptete, mächtige Engel seien zu ihm gekommen und hätten mit ihm gesprochen. Sie hätten ihm gesagt, er sei der neue Messias. Die Bauern glaubten ihm und liebten ihn. Er hat sie alle eingewickelt, dieser Schauspieler. Und dann passierte das Übliche. Die Katholiken wurden verdrängt, ebenso die Protestanten, die sich weigerten sich von Lorche wiedertaufen zu lassen. Alle Priester wurden verbannt. Wer den neuen Propheten nicht anerkannte und ihm nicht gehorchte, musste weg.
    Die Kirche wurde geplündert. Er übernahm den ganzen Ort. Alles wurde seiner totalen Kontrolle unterworfen. Seine Anhänger hatten viele Schlachten in den Niederlanden geschlagen, sie waren es gewohnt, sich mit Gewalt durchzusetzen.«
    Pieter machte eine Pause und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Dann seufzte er, als wäre er mit sich selbst unzufrieden. »Lorches Blutsfreunde schafften in ganz Neu-Jerusalem

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