Der letzte Tag: Roman (German Edition)
weggerannt, als dies passierte. Schauen Sie sich nun den Bereich oberhalb der Mauern an, da, wo die Luft ganz dunkel ist. Was sehen Sie da?«
»Vögel.«
Pieter nickte. Eine Reihe schwarzer Schemen, offenbar Krähen, schien wie leblos über den zerstörten Mauern zu schweben. »Sie sind schon seit Wochen dort und haben die gesegneten Toten gefressen. Aber an diesem Tag wurden sie vom Wind verweht. Der Sturm hat auch sie mit sich gerissen. Hat sie zusammen mit den Überresten von Lorche und seinen Vertrauten in den Himmel gefegt. So, und nun kommen wir zum letzten Teil von Verhulsts Triptychon, dem ›Königreich der Narren‹.«
Eine einzelne Gestalt, die zum oberen Rand des dritten Gemäldes aufstieg, wo der Himmel verkohlt und verbrannt wirkte, fiel Kyle sofort ins Auge. Es war das Unheilige Schwein. Das hässliche Vieh umklammerte sein Zepter mit der einen Pfote und hielt ein golden umrandetes Buch in der anderen. Aber was ihm an dieser Gestalt besonders unangenehm auffiel, war seine offensichtliche Freude über diesen Aufstieg oder diese Himmelfahrt, die sie auf dem Thron sitzend höhnisch grinsend absolvierte. Das Unheilige Schwein fuhr hinauf in den brodelnden Mahlstrom des von gelblich-schwefeligen Nebelschwaden erfüllten Himmels.
Das Schwein und sein Herr stiegen über der schwärzlich verkohlten Stadt auf, die unter ihnen nur noch als winzige, von Rauch umwölkte Miniatur am Bildrand zu erkennen war. Weit oben im Himmel schwebte der Herrscher über zahllose gepeinigte und gefolterte Märtyrer, und um ihn herum flogen mindesten einhundert seiner toten Getreuen, völlig nackt und der Erde entrückt, im Sturm.
Der grausig wirkende Himmel erstreckte sich über zwei Drittel des Gemäldes, die Luft darin wirkte aufgewühlt, wirbelnd,
peitschend und schien an der Erdoberfläche tief unten zu zerren und zu reißen. Und die Vögel, die noch immer von dem menschlichen Aas zehrten, das durch die Lüfte flog, schienen abscheulich grinsend ihren schauderhaften Aufstieg zu genießen. Abgemagerte Hunde mit langen Schnauzen, heraushängenden Zungen und sich unter dem Fell abzeichnenden Rippenknochen hatten sich auf den Hinterbeinen aufgerichtet, hoben sich ebenfalls in die Lüfte und bellten das ungeheure Durcheinander im Himmel über ihnen an.
»Sehen Sie das Unheilige Schwein?«
Kyle nickte.
»Es hält ein Buch in der Pfote, es ist das Buch der hundert Kapitel . Es ist Lorches hierophantisches Manifest für die Blutsfreunde. Sein Testament, in dem er sich als gottgleich, unsterblich und seine Anhänger als Heilige beschreibt. Es ist eine schriftliche Proklamation der eigenen Göttlichkeit. Schwester Katherine hat etwas Ähnliches verfasst, das genauso schlimm ist. Sie behauptete, es sei ihr diktiert worden. Vielleicht war das ja eine der wenigen Behauptungen von ihr, die nicht gelogen war. Und nun sehen Sie sich mal die Gesichter an. Die in der Nähe des Schweins sind am detailreichsten.« Einige der Gesichter waren himmelwärts gerichtet und zeigten einen Ausdruck von irrwitziger Entrückung. »Sie glauben, sie seien gerettet. Aber sie sind nur die Teilnehmer einer Höllenfahrt. Gäste von finsteren Mächten, denen sie durch die Person von Lorche gehuldigt haben. Von diesen sogenannten Engeln. Die Blutsfreunde werden von diesem anderen Ort aufgesogen, ihre Seelen werden verschlungen, sie werden eins mit ihren Engeln, mit ihren falschen Göttern. Sie scheinen den entrückten Gesichtsausdruck von christlichen Heiligen und Märtyrern zu haben, aber in Wahrheit ist es das Gegenteil. Schauen Sie sich jetzt den obersten Teil des Bildes an. Das ist das letzte Stück des Aufstiegs in die Hölle. Durch den Himmel hindurch.«
Im oberen Drittel des Gemäldes war ein langer hässlicher
Streifen zu sehen, der aussah wie blässlicher Schmutz. Wie ein Strand, der darauf wartete von einer Welle von totem Wasser überrollt zu werden. Ein Ort, der sich über dem Mahlstrom des tosenden Himmels ausbreitete, durch den die Märtyrer hinaufschwebten.
»Wir gehen mal zwei Schritte näher dran. Kommen Sie.«
Kyle schluckte.
»Hier oben. In der Hölle. Die Blutsfreunde tollen herum, weit abgehoben von der Welt, wie eine Horde blasphemischer Engel. Sie tummeln sich dort mit dem Schwein und dieser Horde verrückt gewordener Hunde, die sich auf die Hinterbeine gestellt haben. Die Zungen hängen heraus, es sieht aus, als seien sie völlig verblödet. Sehen Sie diese schlichten Kronen da?« Jede der klapperdürren Gestalten, die durch den
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