Der letzte Tag: Roman (German Edition)
durch die Augen von Hunden zu betrachten. Die Kinder, so behauptete er, würden zu wahren Engeln werden, wenn man sie vor den Sünden ihrer Väter schützte. Deshalb nahm er sie den Eltern weg und pferchte sie in einer Scheune ein. Er zerstörte alle Familien und Paare. Die Kirche behauptete, er sei eine Art Hexer. Dass er sich mit dem Teufel zusammengetan hätte. Wer weiß? Wer denkt denn heutzutage noch in solchen Kategorien?
In Frankreich fanden zu dieser Zeit die Religionskriege statt. Die Herzöge von Guise hörten von Lorche und seinem Vandalismus,
seiner Häresie, seinem Bildersturm in St. Mayenne. Aber erst als er den in seiner Nähe ansässigen Bischof umbrachte, hatte Lorche sein Todesurteil unterschrieben. Von da an war es eines der wichtigsten Ziele der Herzöge von Guise, ihn zu beseitigen. Lorche hatte den Bischof auf dem Marktplatz öffentlich köpfen lassen, um seinen Anhängern zu zeigen, dass die Kirche keine Macht über sie hatte. Dann verfütterte er den Bischof an ein Schwein und ernannte das Schwein zum neuen Bischof. Er behauptete, er hätte die Seele des Bischofs in das Schwein eingesperrt. So groß sei seine Macht. Die Menschen in der Stadt nannten es das Unheilige Schwein. Sie zogen ihm Gewänder an und setzten ihm einen Hut auf. Es hatte sogar ein Zepter.
Die Herzöge von Guise waren natürlich empört. Also wurde eine kleine Armee fanatischer Katholiken nach St. Mayenne geschickt. Was sie dort sahen, erschreckte sie zutiefst. Die Leute hungerten, denn Lorche saß auf seinem Thron auf dem Marktplatz mit dem Schweine-Bischof neben sich und hatte den Befehl ausgegeben, dass niemand mehr arbeiten dürfe, denn sie würden nun alle auf Gott warten und sollten nichts anderes tun … nur ihm zuhören natürlich. Sie hatten sogar die Kirche in einen Stall umgewandelt.«
Pieter lehnte sich zurück und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Was dann kam, war sozusagen unvermeidlich.« Er nahm sich eine weitere Zigarette aus dem Etui.
Kyles Augen brannten. Er hatte so gebannt zugehört, dass er vergessen hatte zu blinzeln. Der Grote Markt um ihn herum schien nicht mehr zu existieren. Wieder einmal fragte er sich hoffnungsvoll, ob das alles nicht vielleicht ein kranker Scherz mit versteckter Kamera war, wo er als heimlich gefilmtes Opfer vorgeführt wurde. Pieter schaute ihn prüfend an. »Ich sehe, dass Sie nicht darüber lachen können. Sie hören interessiert zu. Weil Sie gemerkt haben, dass dies alles der Anfang einer schrecklichen Sache war, die sich wiederholte, wie das bei allen schrecklichen
Sachen der Fall ist.« Er lächelte. »So, und nun können wir losgehen und uns ›Die Heiligen des Schmutzes‹ ansehen.«
»Der Maler Niclaes Verhulst hat das Massaker überlebt. Alle anderen, die mit Lorche aus den Niederlanden dorthin gekommen waren, wurden abgeschlachtet und verbrannt. Papst Pius V. persönlich gab in Rom den Befehl dazu. Er verlangte von den Soldaten, dass die den Ort St. Mayenne dem Erdboden gleichmachten. Alles verbrannten. Und so übernahm die Natur wieder die Herrschaft auf diesem Grund. Später wurden wieder Wiesen und Felder angelegt, aber das Land war nach der Heimsuchung durch die Blutsfreunde nicht mehr fruchtbar.« Pieter blieb in einer unbelebten Gasse vor einer breiten Holztür stehen, zu der er Kyle geführt hatte.
Während Pieter sprach, waren sie vom Grote Markt auf ein hohes, schmales Gebäude in der Nähe der St.-Andries-Kirche zugelaufen. Es war nicht besonders gekennzeichnet und schien leer zu stehen. Die mächtige Tür befand sich zwischen einer Galerie, in deren Schaufenstern Skulpturen aus Draht standen, und einem Laden, in dem maritime Antiquitäten verkauft wurden. Beide Geschäfte schienen geschlossen zu sein. Die schmale Gasse war sehr ruhig, und es war kühl hier, da die umstehenden hohen Gebäude lange Schatten warfen und den Lärm des Straßenverkehrs abhielten.
»Zurzeit bewahrt die Familie ›Die Heiligen des Schmutzes‹ hier auf. Aber das Bild kommt immer wieder woandershin.« Pieter griff mit beiden Händen nach dem uralten eisernen Türknauf und lächelte Kyle an: »Aber nicht von allein.«
Kyle folgte ihm in einen engen Vorraum mit nackten weißen Wänden. Es war ein harmloser Ort, sauber und von Tageslichtlampen beleuchtet, die auf Dämmerung eingestellt waren. Es roch nach Weihrauch. Gegenüber der Tür führte eine schmale Treppe mit einem schwarzen eisernen Geländer nach oben.
Kaum waren sie eingetreten, fühlte Kyle sich
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