Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Vögeln.
Er landete auf einem Stapel Müllsäcke und zog sich eine Schnittverletzung am Wadenmuskel zu, weil aus einem der Säcke, in dem sich Gartenabfälle befanden, lange spitze Stöcke herausragten.
Leise vor sich hin stöhnend, humpelte er die Straße entlang, bis er schließlich so schnell es nur ging Richtung Finchley Road losrannte. Hinter ihm wurden die Geräusche des Zerstörungswerks in seiner Wohnung immer leiser und hörten schließlich ganz auf.
Zitternd lehnte er sich gegen die kalte Glastür einer Waitrose-Filiale an der Hauptstraße und schlief irgendwann ein, nachdem er sich auf ein Stück Karton gelegt hatte, den Hammer griffbereit neben sich. Er hätte unmöglich noch weiterlaufen können, er war nicht einmal mehr in der Lage, aufrecht zu stehen. Die Flucht aus der Wohnung hatte seine letzten Energiereserven aufgebraucht.
Seltsamerweise störte ihn niemand, als er da auf der Straße lag. Der Supermarkteingang war von der Straße einsehbar, und wenn während der zwei Stunden, die er dort im Tiefschlaf verbrachte, ein Streifenwagen vorbeigefahren wäre, wäre er zweifellos bemerkt worden. Vielleicht waren Obdachlose, die auf Kartons schliefen, wegen der Wirtschaftskrise schon ein normaler Anblick geworden.
Er wachte um kurz nach sieben Uhr auf. Keiner der Vorbeigehenden nahm ihn zur Kenntnis. Er stand auf und machte der ersten Schicht der Supermarktmitarbeiter Platz. Dann dachte er einige Minuten darüber nach, wie verwunderlich es war, dass er noch lebte.
Sein Portemonnaie war immer noch in der Wohnung, aber die Hausschlüssel hatte er an seinem Gürtel festgemacht. Während er sich den Schmutz von den Ärmeln seiner Lederjacke wischte, kam ein Inder in einer Waitrose-Uniform aus dem Laden und trug eine Tüte mit Gebäck und Bagels vom Vortag zum Müllplatz. Kyle folgte ihm und nahm sich den Beutel. Dann ging er im angenehm hellen Licht des Morgens zurück zu seiner Wohnung und aß unterwegs vier Bagels und eine Apfeltasche. Er hatte noch nie so lecker gespeist.
Das Fenster stand sperrangelweit auf, so wie er es verlassen hatte. Er sah eine ganze Weile hinauf, konnte aber nichts entdecken. Auf dem Weg durchs Treppenhaus inspizierte er den Sicherungskasten. Darin waren alle Schalter heruntergedrückt, und ein Teil der Plastikverkleidung war mit roher Gewalt zerschlagen worden. Die Tür des Kastens war abgerissen und lag auf dem Boden. Im Eingangsbereich roch es nach Abfluss und wie in Häuserecken, in die sich kleine Tiere zum Sterben zurückgezogen haben. Unter der Decke bemerkte er dann den Schmutzfleck. Er musste sich die Nase zuhalten, weil er sonst seine Bagels wieder erbrochen hätte.
Janes Tür war noch immer geschlossen. Einen Moment lang zögerte er und fragte sich, ob er sie wecken und nach seinem Kater sehen sollte. In diesem Moment hielt ein weißer Lieferwagen vor dem Haus und lenkte ihn ab. Kyle drehte sich um und sah, wie der Fahrer ausstieg.
»Kyle Freeman?«, rief der Kurier ihm durch die offene Tür zu. Kyle nickte.
»Paket für Sie.«
Kyle unterschrieb und ging nach oben, unterm Arm ein schweres längliches Paket. Dann hockte er sich zwischen den zerstörten Überresten seines Lebens auf den Boden und löste den Briefumschlag, der auf dem Karton festgeklebt war. Der Brief kam von Max.
Lieber Kyle,
ich hoffe aufrichtig, dass Sie noch unter uns weilen und diese Sendung entgegennehmen können.
Da ich sehr großes Vertrauen in Ihre Fähigkeit zu überleben habe, nahm ich mir die Freiheit, Sie online einzuchecken: Sie fliegen mittags ab Heathrow erster Klasse über LAX nach San Diego. Jemand wird Sie dort am Flughafen abholen. Die Kamera ist ein
Geschenk als Zeichen meiner Wertschätzung. Sie wird genügen, um das letzte Kapitel unseres Films aufzuzeichnen.
Mit sehr herzlichen Grüßen,
Maximillian Solomon
Revelation Productions
»Unter uns! Unter uns!«
Schwester Katherine, Arizona 1973
Irvine Levine, Die Letzten Tage
Oasis Motel, San Diego
25. Juni 2011, 19 Uhr
»Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.«
Kyle lag auf dem Bett, rieb sich die Augen und stöhnte laut auf.
Mit dem bestellten Essen wurden auch eine Flasche Johnny Walker Red und Coca-Cola gebracht, die so kalt war, dass seine Zunge wehtat. Er hatte vor, seinen Burger zu essen, so viel wie möglich von dem Whisky zu trinken und dann einzuschlafen, während Jed und Max Wache hielten. Heute Nacht würde er der »Hauptdarsteller« sein und fühlte sich deswegen ungerecht behandelt, war
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