Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Wie haben sie gelernt, dass es so etwas wie Elektrizität gibt? Wie Ungeziefer, das nach einer Futterquelle sucht, genauso. Kyle fühlte sich schwach, dann spannte er die Armmuskeln an. Er schaute nach unten auf den Hammer, den er in seiner Faust hielt. »Komm doch, komm doch, komm doch«, murmelte er vor sich hin, als wäre es eine Art Mantra. Er musste runtergehen und nachsehen. Jane würde vielleicht aufwachen. Bitte nicht Jane . Es war schlimm genug, dass er Dan in dieses schreckliche Unheil hineingezogen hatte. Dan .
Mit zusammengebissenen Zähnen griff Kyle nach der Taschenlampe, die auf seinem Schreibtisch lag. Ging durchs Zimmer und schlich den Flur entlang zur Wohnungstür. Er spähte hinaus und suchte den Treppenabsatz des ersten Stocks ab.
Nichts.
Er wagte kaum zu atmen und trat ins Treppenhaus. Dank der Taschenlampe könnte er die mit Teppich beklebte Treppe hinuntersehen und einen Teil des Eingangsbereichs im Erdgeschoss abzusuchen. Wenn er sich hinhockte, würde er vielleicht den Fußboden unter dem Sicherungskasten im Blick haben. Seine Muskeln spannten sich an, wurden hart und zerbrechlich wie Porzellan. Wenn jetzt etwas Ungewöhnliches vor ihm auftauchte, würde er wahrscheinlich in zahllose Einzelteile zerspringen. Er war kurz davor, in Schluchzen auszubrechen, als er durch das Treppenhaus hinabspähte.
Das Licht aus seinem Flur warf einen trüben Schimmer auf die obere Hälfte der Treppe. Staub und Fusseln waren zu sehen und ölige Flecken auf dem schmutzigen Teppich. Er hockte sich
hin, richtete die Taschenlampe nach unten und horchte. Aber er wagte nicht, die Lampe einzuschalten. Noch nicht .
Dort unten im Dunkeln hörte er ein Knacken. Wie von einem Gelenk, ein Knie vielleicht oder ein Knöchel, es könnte auch ein Fußknochen gewesen sein. Also war er nicht allein. Seine Finger krampften sich um die Taschenlampe, aber noch immer konnte er sich nicht dazu entschließen, sie einzuschalten. Er fürchtete, nicht ertragen zu können, was er dann sah. Dort unten .
Fingernägel, die über Plastik kratzten. Der Sicherungskasten. Vielleicht .
Es schnaufte, es quäkte. Füße stampften. Ein leiser animalischer Schrei. Danach ein schleimiges Gurgeln. Und nun gingen die Lichter in seiner Wohnung aus. Mit einem Mal war er von vollkommener Dunkelheit umgeben.
Ein jämmerlicher, ängstlicher Ton entrang sich seiner Kehle. Er schaltete die Taschenlampe ein.
Um ihn herum sah es aus, als hätte jemand alle warmen Farbtöne aus der Welt eliminiert. Weder Rot noch Gelb war zu sehen, die notdürftig tapezierten Wände wirkten kalt, der abgelatschte Teppich auf dem Boden hatte alle Grüntöne verloren. Im weißen Schein der Taschenlampe, der einen hellen Tunnel durch die staubige Luft schnitt, war alles auf ein blässliches Grau reduziert, mit gelblicher Tönung dort, wo dieses Ding jetzt herkam. Zuerst sah er nur die Füße. Und schrie laut auf. Dann kam der Gestank nach verbranntem Haus, nach vom Löschwasser getränkten, verkohlten Überresten, nach toten Vögeln, die im Sonnenlicht vertrocknet waren, nach vergifteten Ratten unter Fußbodenbrettern oder einer undichten Abwasserleitung.
Das Ding hörte ihn und huschte am unteren Ende der Treppe entlang, auf Füßen, die man besser in einem hermetisch geschlossenen Sarkophag aufbewahrt hätte. Kyle erstarrte.
Dann richtete er sich hastig auf, aber nicht schnell genug, um dem Anblick der knochigen Finger zu entgehen, die ein Gesicht,
das nur eine vertrocknete Grimasse war, vor der verhassten einzigen Lichtquelle abschirmten. Aber das Licht der Taschenlampe hielt dieses Ding nicht zurück. Es stieg immer weiter die Treppe hoch, mit erhobenen Krallen, um das Gesicht zu schützen. Und dann, im Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich abwandte, sah Kyle leider viel mehr, als ihm lieb war. Sehr viel mehr.
Ein struppiger Wirrwarr dünner strohiger Haare stand von einem feuchten Schädel ab. Bräunlich verfärbte Knie klapperten gegeneinander, die dunklen ledrigen Waden bogen sich nach außen. Eine Ahnung von zerrissenem Stoff, übersät mit braunen Flecken, hing vom Unterleib herab.
Kyle taumelte rückwärts auf seine Wohnungstür zu. Er hörte, wie die ausgemergelte Gestalt sich die Treppe hocharbeitete. Ruckartig und unbeholfen tastete sich das Ding an der Wand entlang, die ihm wundersam fest und solide erscheinen musste und die es mit seinen milchigen Augen und seiner begrenzten Sehfähigkeit kaum erkennen konnte. Sein Quäken wurde ein Winseln, in das sich
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