Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Wechselklamotten und einer nagelneuen Kamera. Aber kaum dass er sich auf dem Motelbett ausgestreckt hatte, wollte er schon wieder schlafen. Am liebsten eine ganze Woche lang. Da er befürchtete, dass Max wieder mit einem seiner berüchtigten Monologe anfing, hob er die Hand und sagte:
»Bitte nicht jetzt, Max. Ich will mich einfach nur entspannen und ein bisschen ausruhen.«
Max lächelte. »Heute Abend, meine Freunde, müssen wir uns mit einigen Zusammenhängen beschäftigen. Es ist ganz natürlich, dass Sie sich weiterhin weigern, die Existenz jener Macht zu akzeptieren, der wir morgen entgegentreten müssen. Tatsächlich würde ich mir Sorgen machen, wenn Sie all das, was ich Ihnen erzählt habe, einfach so hingenommen hätten. Ich spreche hier von dem, was von Chet Regal Besitz ergriffen und den größten Teil seines Lebens in ihm gewohnt hat. Wir stehen jetzt am Vorabend der großen Schlacht, und ich glaube, dass ich Ihnen die Ausmaße von Katherines letztem Gefecht noch etwas detaillierter beschreiben muss.«
»Ich bin total erledigt, Max. Tut mir leid. Völlig am Ende.« Kyle legte die Hände übers Gesicht, um sich vor dem grellen Licht zu schützen, das von Max’ tragbaren Lampen ausging, die auf dem Nachttisch zwischen den Betten standen. »Es sind nur noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang.« Er wunderte sich, dass die anderen beiden keine Anstalten machten, sich schlafen zu legen, um für den nächsten Tag genügend Kräfte zu sammeln.
»Mach weiter, Max«, sagte Jed und blinzelte Kyle zu. »Ich hör zu. Ich könnte dir die ganze Nacht zuhören. Spielberg wird schon wieder zu sich kommen.«
»Spielberg?«
Jed lachte. Kyle warf ihm einen finsteren Blick zu.
Max senkte den Kopf, hob die Hände und bat um Ruhe. »Ich möchte Sie mitnehmen in die Sowjetunion des 1. Juli 1941. Das war der Abend, an dem Molotow und die politische Elite von Sowjetrussland im wahrsten Sinne des Wortes zitterten. Aber nicht, weil es winterlich kalt war, sondern weil sie sich auf dem Weg zur Datscha von Josef Stalin befanden.
Halten Sie das jetzt für eine völlig unpassende Geschichte? Vielleicht ist sie das aber gar nicht. Passen Sie auf: Die sowjetischen
Funktionäre hatten sich aufgemacht, um ihrem Führer eine schreckliche Nachricht zu überbringen. Die Deutschen hatten Russland angegriffen. Die Männer waren der festen Überzeugung, dass diese Nachricht ihnen den Garaus machen würde. Es schien kaum möglich, dass ihr Land der Kriegsmaschine der Deutschen widerstehen konnte, nachdem deren Truppen bereits russischen Boden betreten hatten. Sie waren die Überbringer der schlechten Nachricht, und nun stellte sich außerdem die Frage, ob sie den Zorn Stalins überlebten.
Stalin hatte sich nämlich gewaltig getäuscht. Er hatte sich mit Hitler eingelassen, ihm vertraut und 1939 einen Nichtangriffspakt mit ihm abgeschlossen. Er wollte einen Krieg mit Deutschland unbedingt verhindern. Dank der Vereinbarung mit den Nazis glaubte er, seine Macht weiter ausbauen zu können.
Stalins grausame Tyrannei quälte das Land schon seit zwölf Jahren. Seine Zwangskollektivierung hatte bereits neun Millionen Bauern das Leben gekostet. Weitere zehn Millionen Männer und Frauen waren aus politischen Gründen ins Gefängnis oder in Arbeitslager gekommen und dort gestorben. Als Stalin im Jahr 1953 starb, war die Zahl seiner Opfer auf 20 Millionen angestiegen.
Unvorstellbar. Eine solche Menge von Toten ist einfach jenseits unserer Vorstellungskraft. Sie ist so groß, dass es einen völlig betäubt, wenn man das industrielle Ausmaß dieser Vernichtung von Menschen zu verstehen versucht. Und keins der Opfer starb einen leichten Tod. Keiner dieser zwanzig Millionen. Ihr Leid war ungeheuerlich. Als Russland nun also von Hitler hintergangen wurde, fürchtete Stalin, dass die politische Elite zu einer Art Hinrichtungsparty in seine Datscha kam.
Wenn es nur so gewesen wäre. Aber sogar Stalin hatte die Auswirkungen seines Terrors unterschätzt, die Angst, die er mit seinem krankhaften Verhalten jedem Russen eingeimpft hatte. Er interpretierte die Absichten von Molotow falsch. Wie misshandelte Kinder tendierten auch diese Funktionäre dazu, andere
zu misshandeln. Aber sie waren unfähig zum Widerstand. Absolut unfähig. Seine Macht über sie war vollkommen.
Und, Jed, ich kann dir sagen, dass sie eine der besten Gelegenheiten versäumten, den Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert zu beeinflussen. Stattdessen halfen sie Stalin, seine
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