Der letzte Tag: Roman (German Edition)
genau.«
Kyle war sich ziemlich sicher, dass die Geräusche aus der Wohnung im ersten Stock kamen, durch die Tür, die seit ihren Aufnahmen am Nachmittag noch offen stand.
»Verdammter Mist«, flüsterte Dan.
»Wir schauen besser mal nach. Komm schon. Vielleicht ist es ja harmlos.«
Dan erwiderte nichts und machte auch keine Anstalten zu gehen. Also stieg Kyle als Erster die Treppe hinauf. Das Licht der Kamera, das durch seine Beine hindurch auf die Stufen fiel, half ihm, sich zu orientieren. »Lass die Kamera laufen«, flüsterte er. »Man weiß ja nie.«
»Was denkst du denn? Ich bin doch kein Amateur.«
»Hallo!«, rief Kyle von der Halle aus durch das Treppenhaus.
Möglichst laut, um sein Selbstvertrauen wieder aufzubauen, aber auch, damit der mögliche Eindringling wirklich auf sie aufmerksam wurde. »Ist da jemand? Das hier ist Privatbesitz!«
»Sag doch, dass die Polizei schon alarmiert ist«, murmelte Dan.
Aber dazu konnte Kyle sich nicht durchringen, es kam ihm lächerlich vor. Er wählte die Notrufnummer auf seinem Handy und ließ den Daumen auf der Ruftaste, für alle Fälle. »Los, komm«, flüsterte er Dan zu.
Sie suchten die Erdgeschoss-Wohnung ab. Nichts. Dann stiegen sie in den ersten Stock hinauf und blickten durch die Türöffnungen in jedes der vier leeren Zimmer. Der Scheinwerfer der Kamera beleuchtete nichts als gähnende Leere. Wieder nichts.
Die einzige Ecke, die sie vom Hauptflur aus nicht einsehen konnten, war das Badezimmer, das direkt vom Schlafzimmer abging. »Vielleicht hat sich ja irgendein Cracksüchtiger da reingeschlichen« , flüsterte Dan mit angespannter Stimme. Sie standen dicht nebeneinander und spähten durch die Tür zum Badezimmer. Schließlich wurde Kyle es leid, so ängstlich und wie gelähmt herumzustehen, durchquerte in einer plötzlichen Aufwallung von Selbstbewusstsein das Schlafzimmer und sah ins Bad.
Porzellan, Holz, Chrom, ansonsten leer.
Sie gingen nach oben und durchkämmten das Penthouse, auch leer. Sie stiegen wieder in den ersten Stock hinunter. Kyle schüttelte den Kopf, als sie alles abgesucht hatten. »Nichts.«
»Ein altes Haus. Vielleicht sind die Fundamente ja schon angeknackst.«
»Wahrscheinlich. Jedenfalls ist niemand hier außer uns.«
Dan warf ihm von der anderen Seite der Kamera her einen Blick zu. Sie merkten, dass sie einander mit völlig verzerrten Gesichtern anstarrten, und brachen in lautes Lachen aus. Und Kyle stellte nach all den Jahren der gemeinsamen Arbeit wieder einmal fest, wie sehr er den Klang von Dans kehligem Gelächter mochte.
»Ich muss mal pinkeln. Ich geh da jetzt rein. Kurze Pause«, sagte Dan. »Aber lass uns das dann rasch hinter uns bringen. Wenn ich dieses verdammte Weizenbier erst mal losgeworden bin«, fügte er beim Urinieren über seine Schulter hinweg hinzu.
Kyle nickte. »In Ordnung. Wir nehmen die Anfangssequenz noch mal neu auf. Dann machen wir Nachtaufnahmen oben im Penthouse von Schwester Katherine. Und ein paar Schüsse beim Raufgehen. Den Ton können wir später drüberlegen und das Ganze mit Susans Interview zusammenschneiden.«
Dan nickte, machte den Reißverschluss zu, nahm die Kamera wieder an sich und ging Richtung Treppe. Dort blieb er kurz stehen und wandte sich zu Kyle um. »Meinst du, jemand ist reingekommen und versteckt sich jetzt?«
»Wo denn? Komm schon, beweg deinen Arsch.«
»Ein Jahr lang hat Schwester Katherine den größten Teil ihrer Zeit in diesen vier Zimmern verbracht. Nur gelegentlich schlüpfte sie in schicke Designer-Klamotten, legte jede Menge teuren Schmuck an und begab sich nach draußen, um in der Bond Street auf Shopping-Tour zu gehen oder exklusive Klubs in Mayfair, Knightsbridge oder Chelsea aufzusuchen. Davon sind uns einige wenige Fotos erhalten geblieben. Im Vergleich zum Rest des Gebäudes, wo ihre Anhänger im Gemeinschaftsschlafzimmer ohne jede Privatsphäre dicht nebeneinander nächtigten und vom Schnarchen der anderen Mitbewohner und womöglich den Schreien der Babys aus dem Keller gestört wurden, waren die Verhältnisse hier oben recht luxuriös. Diese Trennung hatte bedeutsame Auswirkungen auf das Bewusstsein ihrer Anhänger. Es war der deutlichste Hinweis darauf, dass Schwester Katherine eine besondere Autorität beanspruchte, dass sie darauf pochte, als spirituelle Führerin über ihnen zu stehen. Dieser Anspruch würde sich später an den beiden anderen Orten, wohin sie sich mit ihren Getreuen zurückzog, noch deutlicher äußern.
Das Ganze
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