Der letzte Tag: Roman (German Edition)
waren feucht. »Was war das denn?«
Kyle schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich hab Schritte gehört … so ein Getrappel und Getrampel … wie im Zoo.«
Auf Dans verängstigtem Gesicht zeigte sich die Andeutung eines Grinsens. »Wie im Zoo?«
»Vögel. Tiere. Du weißt schon, wie im Zoo halt. Es war weit entfernt. Hast du das mitbekommen?«
Dan schaute ihn ratlos an. Sein schweißnasses Gesicht glänzte. »Ich hab eine Stimme gehört.«
»Nein.«
»So ein Jammern. Als würde jemand versuchen zu singen. Glaub ich. Ohne Worte. Außerdem etwas, das wie ein Hund klang. Und eine Flöte oder so was.«
»Eine Flöte? Meinst du so ein Pfeifen?«
»Ja, so ähnlich. Keine Ahnung.« Er stockte und schlug die Hände vors Gesicht. »Oh, Scheiße!«
»Was denn? Was?« Kyles Stimme klang eine Oktave zu hoch.
»Die Kameras, Mann. Wir haben die verdammten Kameras da drin gelassen.«
Kyle lachte, eher aus Erleichterung als wegen der Absurdität der Situation. »Falls du glaubst, dass ich ohne geistlichen Beistand noch mal da reingehe, dann hast du dich aber geschnitten.«
»Die Taufe. Ich muss morgen früh um neun Uhr dort sein. Das hab ich Jared versprochen. Mist.«
Sie schwiegen einige Sekunden, die ihnen wie Minuten erschienen, und Kyle starrte zum Haus hinüber. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann’s echt nicht glauben. Ein Teil von mir fragt sich ernsthaft, ob das vielleicht unsere erste, die allererste, verstehst du, die erste Begegnung mit … was auch immer … war, die wir hatten.«
Dan versuchte zu lächeln. »Das kann ja auch eine Ratte gewesen sein, eine Taube, die sich da hineinverirrt hat. Ein Hund. Vielleicht war es auch bloß ein Luftzug. Wir haben was getrunken. Und in solchen alten Häusern gibt’s manchmal komische Geräusche. Es war doch überhaupt nichts zu sehen. Wir haben uns einfach nur ins Bockshorn jagen lassen.«
Kyle wandte sich seinem Freund zu, streckte die Hände aus und drehte die Handflächen nach oben. »Dann geh los, und hol deine Kamera.«
West Hampstead, London
12. Juni 2011, 13 Uhr
Am Sonntag wirkte die ganze Episode wie ein Traum. Sie hatten erfolgreich ein paar Aufnahmen im Morgengrauen geschossen und dann das Haus mit der ganzen, unbeschädigten Ausrüstung verlassen.
Wahrscheinlich war irgendein Tier in das Haus an der Clarendon Road eingedrungen. Ein Hund oder ein Fuchs. Ein Vogel, vielleicht eine Taube. Die waren doch überall. Und die kleinste Bewegung oder das leiseste Geräusch von so einem eingedrungenen Vogel oder Säugetier wurde in einem leeren Haus durch den Hall verstärkt und konnte jedem einen gehörigen Schrecken einjagen. Genauso gut konnte es sein, wie Dan vermutete, dass jemand in das Haus eingestiegen und ihnen heimlich gefolgt war.
Aber wieso hatte er dann die teure Ausrüstung nicht angerührt? Oder gar mitgenommen?
Er schloss aus, dass es ein Fernsehgerät oder ein Radio gewesen war, denn das Haus stand allein, und die Fenster waren geschlossen gewesen. In der dort herrschenden Finsternis konnte man sich mit ein bisschen Fantasie alles Mögliche vorstellen. Das war eigentlich ganz normal. Und kaum überraschend nach den Geschichten über angebliche Visionen und Erscheinungen, die Susan White ihnen in dem verlassenen Gebäude erzählt hatte. Dann
ein paar Biere, ein knarrender Fußboden, und schon drehte man durch. Je weniger Menschen von diesem Zwischenfall erfuhren, desto besser. Das Ganze war Kyle sehr peinlich, jetzt, nachdem er den halben Tag zu Hause in seiner billigen Einzimmerwohnung verbracht hatte und sich vollkommen sicher fühlte. Er trug einen Jogginganzug und arbeitete am Drehbuch, während der Zigarettenrauch von seinem Aschenbecher mit dem Fratzengesicht aufstieg. Daneben stand schon wieder ein neuer Becher Kaffee.
In seiner heruntergekommenen Bude standen all die angestaubten Dinge herum, die sein Leben und seine Wahrnehmung über längere Zeit entscheidend geprägt hatten: das alte Ledersofa, auf dem er immer Rückenschmerzen bekam; die Regale an der Wand mit Hunderten von DVDs; die Stereoanlage; der elektrische Mixer, auch »Smoothie-Maker« genannt, der leider sehr schwierig zu reinigen war; Hunderte von Büchern, in drei Reihen bunt durcheinander gestapelt; die Standfotos aus alten Schwarz-Weiß-Filmen; das gerahmte Plakat des Films Aguirre, der Zorn Gottes von Werner Herzog; der Schreibtisch, der schon in der Wohnung gewesen war, als er einzog, und auf dem nun zahllose Ordner, Bücher und DVDs
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