Der letzte Tag: Roman (German Edition)
herumlagen.
Das war wenig, an dem man sich festhalten konnte, eigentlich nicht mehr als ein verlotterter Rückzugsort mit einem ständig leeren Kühlschrank, dem vagen Geruch nach Katzenpisse in der Nähe der Wohnungstür, zwei Fenstern, die nicht mehr richtig zugingen, und Nachtspeicheröfen, die nicht funktionierten. Er konnte noch nicht mal seine Gas- und Stromzähler ablesen, weil sie zwei Stockwerke tiefer in der Kellerwohnung installiert waren, deren Mieter er noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
Die Wohnung kam ihm noch schäbiger vor, nachdem er die Weitläufigkeit und Eleganz der Villa in der Clarendon Road gesehen hatte. Ähnlich erging es ihm immer, wenn er nach einer Übernachtung in einem Hotel wieder nach Hause kam. Aber das hier war sein Heim. Sicher und wirklich. Und auch wenn die Erlebnisse
der letzten Nacht ihn so weit verunsichert hatten, dass er nur sehr schlecht geschlafen und Albträume gehabt hatte, an die er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern konnte, sorgte das Licht des neuen Tages dafür, dass die letzten Reste seiner Furcht auch noch vergingen.
Kyle zog die vierte Speicherkarte aus dem Schlitz auf der Rückseite seines Laptops. Darauf war vermerkt: London, 11. Juni, Clarendon Road, Penthouse-Interview: Susan White alias Schwester Isis . Auf den ersten vier Speicherkarten war schon ziemlich gutes Material zu sehen gewesen. Susan Whites Interviewteile gipfelten alle in einem Höhepunkt, an dem ihre innere Erregung sichtbar wurde, zumeist gegen Ende der Aufnahme. Sehr schön. Natürlich wären die Szenen besser geworden, wenn sie eine ausgebildete Schauspielerin genommen hätten, aber das hier war echt. Und sah auch ziemlich gut aus. Das Tageslicht war im Laufe der Zeit verblasst, hatte nach einer anfänglichen weißlichen Sterilität und Leere, in der Susan eher kümmerlich und klein wirkte, einen bernsteinfarbenen Ton angenommen, und es waren Schatten hinzugekommen, als die Wände um sie herum sich verdunkelten. Es war wunderbar anzusehen, wie ihre Geschichte ein ganz eigenes Tempo und einen eigenen Charakter entwickelte. Die eigenartigen Geräusche, die er außerdem noch aufgenommen hatte, sorgten dafür, dass diese Filmsequenzen einen ganz speziellen Zauber bekamen, an den er so vorher gar nicht gedacht hatte.
Er zwang sich dazu, ein Sandwich runterzuschlingen. So langsam wurde er angesichts des Materials euphorisch. Daraus konnte man etwas machen. Was richtig Gutes. Er musste es unbedingt mit Dan besprechen. Der Gedanke, dass jetzt gleich der letzte Rest Rohmaterial der vergangenen Nacht vor ihm auf dem Bildschirm erscheinen würde, machte ihn so nervös und erregt, dass er heftig zu atmen begann, als er die fünfte Speicherkarte in den Computer steckte. Er hatte sie sich bis zum Schluss aufbewahrt. Die richtig wertvollen Aufnahmen.
Die Tonspur von dem Mikrofon an der Kamera wurde eigentlich nur zur Orientierung benutzt, aber es war auf dem Weg durch das Gebäude in den Keller eingeschaltet gewesen und hatte alles aufgenommen. Auch im Keller selbst, als sie sich zuerst ziemlich gegruselt hatten, und dann, als Dan die Kamera als Scheinwerfer benutzte.
Und da waren sie beide, er und Dan, im Penthouse, das ganz unbeleuchtet war. Die Kamera lag auf Dans Schulter und war auf Weitwinkel eingestellt. Auf dem Computerbildschirm erschienen der Fußboden und die Wände im engen weißen Lichtkegel des Kamerascheinwerfers. Das Licht wurde schwächer und verlor sich dann im Halbdunkel. Der dunkle Raum auf dem Bildschirm wirkte wie bei einer Unterwasseraufnahme, als hätten sie in einem versunkenen Wrack gefilmt. Der leichte Schimmer von frischer Farbe und die Politur der Fußleisten halfen dem Betrachter, sich die Umrisse der Räume ungefähr vorzustellen, jedenfalls, wenn man sie bei Tag gesehen hatte.
Der schwache Lichtschimmer huschte über die Rückseite von Kyles Lederjacke, als er vor der Kamera vorbeilief. Seine Haare erstrahlten bläulich. Dann verwackelte alles, und anschließend fiel ein aufdringlicher Lichtschein in die Leere des Treppenhauses, reichte aber nicht sehr weit.
Bis die Kamera plötzlich nach vorn ruckte und dann nach oben zur Decke gerichtet wurde. Auf der Tonspur war zu hören, wie Dan ausrief: »Blödmann!«
»Warum bleibst du denn stehen?«
»Pst. Hast du nicht die Haustür zugemacht, nachdem wir reinkamen?«
»Doch. Ich hab sie abgeschlossen.«
»Hör mal.«
Kyle drückte auf Pause. Er ließ die Aufnahme zurücklaufen bis zu dem Punkt, kurz bevor Dan
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