Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Haben Sie kommenden Montag Zeit, also morgen?«
»Das dürfte gehen.«
»Um eins? Ein anderer Tag geht gar nicht. Ich bin die nächsten drei Wochen komplett ausgebucht.«
»Gut, gut. Das kriege ich hin.«
»Und Sie müssten dann zu mir kommen. Ich arbeite in der Nähe der Strand.«
»Gut, super.«
»In Ordnung. Dann treffen wir uns im Star Inn. Um Punkt eins. Ich habe zwanzig Minuten Zeit für Sie. Wir sehen uns dann. Und bringen Sie mir bitte meine Post mit.«
»Selbstverständlich«, sagte Kyle zum Freizeichen.
Er atmete aus und nahm einen großen Schluck aus dem Wasserglas auf seinem Couchtisch. Dann wandte er sich dem Laptop zu und googelte den Namen des Lokals, das Rachel Phillips erwähnt hatte. Öffnete ein neues Fenster auf dem Bildschirm und kopierte die Postleitzahl ins Google-Map-Fenster. Anschließend suchte er nach der nächstgelegenen U-Bahn-Station. Chancery Lane. Vielleicht konnte er ja mit einem Taxi hinfahren und die Rechnung Max bezahlen lassen, der diese Informationsquelle sicher zu schätzen wüsste. Er könnte versuchen, Rachel Phillips zu überreden, ihre Aussage anonymisiert aufzunehmen, um dann eine Schauspielerin ihren Text nachsprechen zu lassen, wenn das Material gut genug war. Am Telefon war sie ziemlich kurz angebunden
gewesen, aber es war untypisch für eine Anwältin, sofort auf irgendwelche übernatürlichen Sachen zu tippen, wenn sie in ihrer Mietwohnung eigenartige Geräusche oder Gerüche wahrnahm. Juristen mussten doch immer sorgfältig und präzise sein, oder?
Am liebsten hätte er Dan noch mal angerufen, um ihm von dem anstehenden Interview zu erzählen. Dass auch jemand anderes diese merkwürdigen Phänomene in dem Haus beobachtet hatte, war schon erstaunlich. Er griff nach dem Telefon, aber dann fiel ihm ein, dass Dan ja noch arbeiten musste, und er legte es wieder zurück. Schließlich ließ er sich aufs Sofa fallen und schaute aus dem Fenster auf den Kastanienbaum draußen, durch dessen Krone die untergehende Sonne drang. Wegen des dichten Blattwerks wirkte es, als würden zahlreiche Diamanten aufblitzen.
Die ganze Geschichte wurde immer interessanter. Das konnte er regelrecht spüren. Dies war jener spannende Moment, wo man merkte, dass die ganze Plackerei, die Jagd nach Interviewpartnern, die endlosen Telefonate, um einen Aufnahmetermin zu bekommen, das Herumstehen zwischen den Einstellungen, der ganze Ärger, die Rückschläge, die Änderungen und Kompromisse auf einmal zu Ergebnissen führten. Das war der Punkt, an dem eins zum anderen kam und man aufgeregt feststellte, dass das Projekt vorankam, endlich Gestalt annahm und die Geschichte sich entwickelte. So wie er es bei der Arbeit am Skript niemals erreichen konnte. Die besten Geschichten erzählten sich von selbst und führten dazu, dass man die ursprünglichen Pläne in den Papierkorb werfen konnte. Das hatte er auch schon bei Blutrausch und Hexenzirkel erlebt. Die Geschichten wurden lebendig, weil sie darauf gewartet hatten, erzählt zu werden, es mussten nur die richtigen Leute kommen und die richtigen Fragen stellen.
»Wahnsinn!«, sagte er zu dem Kater, der es sich auf der Sofalehne bequem gemacht hatte. Er blinzelte nur und drehte sich auf den Rücken.
Max hatte sich noch immer nicht gemeldet. Am Morgen hatte Kyle eine kurze Nachricht auf seiner Mailbox hinterlassen. Und zwei weitere am Nachmittag, als er viel zu aufgeregt war, weil er die Aufnahmen angesehen hatte, die auf der letzten Karte gespeichert waren. Hatte Max ihn nicht gebeten, ihn sofort nach dem Gespräch mit Susan White anzurufen?
Er öffnete sein E-Mail-Programm und begann, eine Nachricht zu schreiben:
Hallo Max,
entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen mit meiner Begeisterung auf die Nerven gehe, aber Samstagabend hatten wir ein ziemlich aufregendes Erlebnis in der Clarendon Road. In meinem Kopf dreht sich immer noch alles. Wie auch immer, ich würde Ihnen gern bei unserem nächsten Gespräch mehr davon erzählen. Die Panik ist jedenfalls vorbei: Wir haben die Kameras heute früh – nach einigem Zögern, muss ich wohl hinzufügen – heil aus dem Haus geholt, weil Dan einen Termin hatte. Bei Tageslicht macht das Gebäude einen ganz anderen Eindruck. Wir entdeckten keine Spuren, dass außer uns jemand dort gewesen war. Alles war genauso wie zu dem Zeitpunkt, als wir mit Susan White durch die Räume gegangen sind: leer, kahl, normal, absolut unspektakulär. Die Lichter gingen immer noch nicht, aber wir hatten auch nicht den Mut
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