Der letzte Tag: Roman (German Edition)
waren die Geräusche von jemandem, der durch die Dunkelheit stolperte, und zwar genau auf jene Stelle zu, wo er und Dan kauerten.
Auf dem Bildschirm ruckten ihre Beine nach oben und stürmten davon. Sie stießen im Türrahmen gegeneinander, drängelten und stürzten dann gleichzeitig ins Treppenhaus und verschwanden aus dem Bild. Das Mikrofon nahm ihr chaotisches Getrampel im unbeleuchteten Treppenhaus auf, das Quietschen ihrer feuchten Hände auf dem Geländer, das Poltern ihrer Füße auf den Stufen, das Stöhnen und Ächzen, das klang, als ließe eine überhitzte Maschine Dampf ab. Dann war nur noch entferntes Fußgetrappel
zu hören. Aber die Kamera filmte weiter den dunklen leeren Flur jenseits der Türöffnung des Zimmers, das sie gerade verlassen hatten.
Neuartige Geräusche drangen nun aus den Lautsprechern. Sie erinnerten Kyle an das wilde Klatschen von Händen gegen eine Wand. Als versuchte jemand, der sich nur unbeholfen fortbewegen konnte, ihnen eilig zu folgen.
Eine zweite Tür im gleichen Stockwerk schlug zu, es klang, als hätte jemand sie heftig zugeworfen. Sind da etwa zwei Eindringlinge im Haus gewesen? Unmöglich.
»Mein Gott.« Weit nach vorn gebeugt, starrte Kyle auf den Bildschirm seines Laptops und wagte nicht zu blinzeln, aus Angst, er könnte verpassen, was er in Wahrheit gar nicht sehen wollte. Das Bild auf dem Monitor blieb einige Sekunden unverändert. Die Kamera bewegte sich nicht, lag auf dem Boden und nahm von dort auf, das Bild im Sucher blieb gleich. Bis zu dem Moment, als eine dünne Gestalt an der Türöffnung vorbeischoss.
Auf unbeholfenen Beinen, unkoordiniert, aber schnell, huschte das Wesen vorbei und eilte dann ebenfalls durch das Treppenhaus nach unten. Verfolgte sie. Und in dem Augenblick, als es durch die Tür flitzte, hörte man das Kratzen seiner Füße oder von Hundepfoten, die über den glatten Parkettboden rutschten.
Kyle drückte auf PAUSE. Es war ganz offensichtlich, dass jemand oder etwas die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen war. Aber wie denn? Sie hatten doch alle Zimmer im oberen Stockwerk abgesucht, bevor sie mit der letzten Szene begonnen hatten. Und sie hatten alle Türen hinter sich geschlossen. Das war einfach nicht möglich. Eine Weile war er viel zu nervös, um sich die Aufnahmen noch einmal anzuschauen. Aber dann spulte er die letzte Szene doch noch einmal zurück, bis das blasse Wesen wieder erschien und durch die Türöffnung huschte.
Er lehnte sich zurück und starrte das Standbild an, auf dem eine aufrecht stehende Gestalt mitten in der Bewegung zu sehen war.
Er fuhr die Aufnahme zwei Einzelbilder weiter. Die Gestalt war noch immer sehr undeutlich, wirkte beinahe wie überblendet, aber die Kamera hatte sie ein bisschen schärfer getroffen. Ja, jetzt konnte man einige Details ausmachen. Zwei hagere Beine unter einem eingeschrumpft wirkenden Unterleib. Und die Andeutung eines schlaffen Gesäßes. Fleisch, so bleich wie der Bauch eines Fischs. Extrem schmale Knie, dünne, sehnige Waden, Knöchel und Fersen, mehr knochig als von Fleisch umgeben. Der zweite Fuß, der gerade in der Luft hing, war verzerrt. Aber man konnte erahnen, dass er ungewöhnlich lang und schmal, wenn nicht gar spitz war. Nichts als nackter Knochen.
Kyle hätte beinahe vergessen zu atmen. Er ließ die Aufnahme langsam vorwärtslaufen und sah zu, wie die vage Silhouette verschwamm, sich bückte und dann verschwand, was irgendwie aussah, als wäre die Gestalt auf allen vieren gelandet und auf diese Weise Richtung Treppenhaus und damit außer Sichtweite geeilt.
Er schaute sich die letzten drei Bilder erneut an. Es waren die Einzigen, auf denen man die Andeutung eines Gesichts wahrnehmen konnte. Aber im Flur war es dunkel, und die Gestalt war verzerrt, weil sie sich so schnell bewegte. Viel war nicht zu erkennen, nur die Umrisse eines unbehaarten Kopfs.
Er bekam einen Krampf in den Beinen, konnte sich aber nicht bewegen, als die Aufnahme endete. Die Gestalt verschwand vom Monitor, doch das Geräusch ihrer kratzenden und schabenden Gliedmaßen, die die Treppe hinunterhasteten, hörte sich an, als würden vier Tatzen mit langen Krallen über das Holz rutschen und nach Halt suchen.
Das Mikrofon nahm es einige unerträgliche Sekunden lang auf. Bis die Geräusche dieser nach unten huschenden Gestalt von einem Windstoß übertönt wurden, der durch das Haus rauschte und sogar die Kamera zum Wackeln brachte. Und dieser heftigen Böe, die einmal durch das ganze Gebäude fegte, folgte
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