Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Anwältin, Max, eine angesehene Anwältin! Wie, glauben Sie wohl, sieht dieser Film aus, wenn wir nur einen Haufen Alt-Hippies über irgendwelche ›Erscheinungen‹ in den Siebzigern faseln lassen und sie uns von einer obskuren Gruppe wie den ›Sieben‹ erzählen, hm? Die auch noch so richtig dick auftragen. Denken Sie mal drüber nach. Das sieht nachher aus, als würden wir irgendwelche Fantasy-Stories aus Dungeons & Dragons erzählen.«
»Bitte, werden Sie nicht laut. Sie müssen mich doch verstehen …«
»Nein, Max, das kann ich aber nicht. Ich verstehe nicht, warum Sie mir verbieten wollen, ein klein wenig Eigeninitiative zu ergreifen. Das ist jedenfalls kein guter Anfang für eine längere Geschäftsbeziehung. Ich bin nicht damit einverstanden, wenn meine Versuche, Glaubwürdigkeit zu erreichen, durch Sie torpediert werden. Das habe ich Ihnen bei unserem Treffen deutlich gemacht. Sie haben mir volle künstlerische Freiheit gegeben. Ich lasse mich nicht von einem vorgefertigten Plan gängeln, Max. So arbeite ich nicht. Ich kann diese Geschichte frei angehen, ich habe mit niemandem ein Hühnchen zu rupfen. Und ich habe auch nicht die Absicht, das stellvertretend für Sie zu tun. Zumal Sie selbst ein Mitglied dieser Gruppe gewesen sind, stimmt’s?«
Auf Max’ Seite brach ein längeres Schweigen aus. Das Einzige, was Kyle hören konnte, war sein schweres Atmen. »Na gut, Kyle, Sie haben ja recht. Ich möchte mich entschuldigen. Ich bin im Moment ziemlich unter Druck. Verzeihen Sie mir bitte.« Er klang jetzt wesentlich ruhiger und versöhnlicher, fast schon reumütig, als wäre er überrascht, dass er sich zu einem derartigen Gefühlsausbruch hatte hinreißen lassen. Offenbar waren sie beide überrascht.
Kyle blieb vorsichtig. Er war instinktiv immer auf der Hut vor irgendwelchen autoritär auftretenden Produzenten im Filmgeschäft. Damit hatte er weiß Gott genug zu tun gehabt. »Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, dass Sie ein Mitglied der Letzten Zusammenkunft waren? Das hätten Sie mir doch mitteilen müssen. Sie haben von Anfang an da dringesteckt, aber Sie haben es mir nicht erzählt. Was soll das, worum geht es hier eigentlich?«
»Susan hätte das nicht erwähnen dürfen. Ich habe sie doch darum gebeten.«
»Warum denn? Sie haben die Sekte in der gleichen Woche wie sie verlassen! Sie hätten uns genau die gleichen Informationen geben können wie Susan. Vielleicht sollten wir auch Sie mal befragen …«
»Nein!«
Kyle zuckte zusammen, als hätte er über den Telefonhörer einen Stromschlag bekommen.
»Entschuldigung. Es tut mir leid. Es ist eine ziemlich schwierige Zeit für uns im Augenblick.«
»Für uns? Wen meinen Sie mit uns?«
Max seufzte laut auf. »Es ist wieder einer von uns in die Nacht gegangen.«
»Das verstehe ich jetzt nicht, Max. Was erzählen Sie da?«
»Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Es ist absolut vorrangig, dass wir Bruder Gabriels Aussage noch in dieser Woche bekommen. Und ich muss die Londoner Aufnahmen sofort sehen. Laden Sie sie auf die FTP-Site hoch. Haben Sie die Adresse?«
»Ja, aber warten Sie mal. Hören Sie mir mal zu. Was meinen Sie damit: ›Es ist wieder einer von uns in die Nacht gegangen‹?«
»Wir sind alt. Es sind nicht mehr viele von uns übrig. Manchen geht es ziemlich schlecht. Und ein guter alter Freund von mir ist kürzlich von uns gegangen.«
»Sie meinen, er ist gestorben? Wer denn?«
»Das spielt keine Rolle. Er war sowieso nicht bereit, für diesen Film sein Schweigen zu brechen. Er hätte sich nie da hineinziehen lassen. Aber ich bin trotzdem sehr erschüttert deswegen.«
»Tut mir leid, Max, tut mir sehr leid.«
»Ich habe erst gestern davon gehört. Das ist alles sehr traurig. Wir haben gemeinsam viel durchgemacht.« Max räusperte sich. »Rufen Sie mich an, wenn Sie in Frankreich angekommen sind. Dann können wir alles Weitere besprechen. Wir treffen uns dann, wenn Sie wieder zurück sind.«
»Warten Sie!« Aber Max hatte schon aufgelegt.
»Was immer Sie über diese Morde gelesen haben,
dieses Buch wird Sie schockieren.«
Irvine Levine, Die Letzten Tage
Nähe Mortain, Basse-Normandie, Frankreich
15. Juni 2011
Auf Kyles Handy kam eine weitere SMS an. Von Max: Filmen Sie jedes Gebäude. Ich möchte Aufnahmen von Bruder Gabriel in jedem Zimmer. Es war die neunte Nachricht von Max, seit sie in Frankreich angekommen waren. Hinten auf dem Rücksitz ihres Minivans saß Bruder Gabriel regungslos wie eine Puppe.
»Es
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