Der letzte Tag: Roman (German Edition)
mich das denn noch fragen? Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Aber Sie haben doch hier gelebt!«
Dieses eine Mal blieb Bruder Gabriel eine Antwort schuldig.
»Können Sie uns nicht irgendwas Brauchbares sagen? Vergessen Sie mal diese ganzen Verschwörungen innerhalb der EU, okay? Das nützt uns hier draußen überhaupt nichts.«
Dan grinste vor sich hin, drehte sich dann aber zu Kyle und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Ruhig bleiben, Alter.«
Am Straßenrand standen so viele Bäume herum, dass Kyle sich fragte, ob er überhaupt noch wusste, wie eine Eiche aussah. Als er klein gewesen war, hatte eine im Garten seiner Eltern gestanden. Er erinnerte sich noch, wie er an einem heißen Sommertag, nur mit einer Badehose bekleidet, den Halt verloren hatte und den Stamm heruntergerutscht war. Mit seinen schmalen Armen und den ungelenken Kinderbeinen hatte er vergeblich versucht, sich festzuklammern. Ein paar Sekunden nach dem Unfall war seine Mutter zu ihm gestürzt und hatte gedacht, er hätte sich kastriert. Er erinnerte sich noch, wie sie sein »Schwänzchen« in einer Schale mit Desinfektionsmittel gebadet hatte, während er mit der einen Hand sein blutendes Gesicht mit einem Tuch abtupfte und mit der anderen ein Stück Stoff gegen die Wunde an seiner Brustwarze drückte. Seine Nase und seine Stirn waren für den Rest des Sommers von üblen Schrammen verunziert gewesen.
Er schlug mit der Hand aufs Lenkrad und stieg auf die Bremse. Der abrupte Halt schleuderte sie auf ihren Sitzen nach vorne.
»Was ist denn?«, fragte Dan.
»Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten die Karte genauer studiert, als wir vorhin im Café saßen?«, fragte Bruder Gabriel mit leiernder Stimme.
Erster Gang: Er hielt an jedem einzelnen, halbwegs großen Baum an, dachte intensiv darüber nach, wie so eine verflixte Weißeiche genau aussah, bis die Straße bergauf führte. War das die Steigung?
»Können Sie jetzt was Bekanntes entdecken, Gabriel?«
»Bin mir nicht sicher.«
»Also wenn es hier nicht ist, dann weiß ich nicht, wo wir noch suchen sollen, verdammt noch mal. Vielleicht hat dieser Hof nie existiert.«
»O doch. Die Steine, aus denen die Häuser gebaut wurden …«
»Nicht schon wieder, Gabriel«, sagte Dan. »Wir haben viel Zeit dafür, wenn die Kamera läuft, okay?«
Kyle ließ den Wagen ganz langsam weiterrollen, bis zum nächsten größeren Baum. Vielleicht ist dieses Riesending ja die verdammte Eiche . Ja, jetzt, wo sie sich genau darunter befanden, war er sich ganz sicher. Ein kurzer dicker Stamm, an dem man leicht hinaufklettern konnte, und dann ein weitverzweigtes Geäst und jede Menge Blätter, die dafür sorgten, dass das Auto in finsterstem Schatten stand. Er schaltete das Navi aus. Ließ das Beifahrerfenster herunter und schaute an Dan vorbei nach draußen. In den Büschen gegenüber der Eiche war eine Lücke, aber ein Tor war nicht zu erkennen. Die Hecke war dicht gewachsen und sehr hoch.
Kyle schnallte sich ab und stieg auf unsicheren Beinen aus dem Wagen. Stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die Hecke zu spähen. Ungefähr hundert Meter weiter, auf dem kahlen Feld, das die Hecke umschloss, entdeckte er eine Ansammlung von Bäumen. Das Wäldchen?
Vorsichtig tastete er sich mit den Füßen durch das hohe feuchte Gras neben dem Feldweg. Seine Jeans wurden bis zu den Knien durchnässt. Inmitten einer Kuhle fand er eine Erhebung. Er stieg darauf und schob die Zweige der Hecke auseinander. Einen Meter vor sich konnte er zwei Pfosten eines Gartentors erkennen. »Ich hab’s gefunden!«
Die Sonne würde in weniger als vier Stunden untergehen. Besser alles bis zum Abend erledigen. Keinen Verdacht erregen , hatte Max sie mit seiner letzten SMS instruiert, dann war kein Empfangssignal auf den Handys mehr zu sehen.
Warum? Wieso Verdacht erregen? , hatte er zurückgeschrieben, aber keine Antwort erhalten.
Kyle kämpfte sich durch das Unterholz und die Hecke hindurch. Hielt die Zweige fest, damit Dan ihm mit den Kameras und der Tasche mit der Ausrüstung folgen konnte. Bruder Gabriel kam hinter ihnen her. Ganz vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.
Sie stolperten auf eine Wiese. Es war eine unendlich weite Fläche, bedeckt mit Unkraut, Brennnesseln und hohen Gräsern, alles feucht und hüfthoch. Irgendwo unter diesem ganzen Gestrüpp war der Pfad verborgen, den die Anhänger von Schwester Katherine gegangen waren, wenn sie zum Dorf wollten, wo sie Eier oder
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