Der letzte Tag: Roman (German Edition)
übersäten Aufschlägen von Bruder Gabriels Mantel war eine grüne Trainingsjacke zu sehen, darunter zwei Hemden, deren Kragen ziemlich schmutzig waren. Das alles wirkte, als könnte man unter diesen Kleiderschichten nichts weiter finden als den völlig ausgemergelten Körper eines schmutzigen Kindes. Einen Augenblick lang hatte Kyle sich ängstlich gefragt, ob Bruder Gabriel überhaupt in der Lage wäre, seine Wohnung zu verlassen. Schlimmer noch war, dass er und Dan nun für das
Wohlergehen dieses eigenartigen Menschen verantwortlich waren.
Auf der Fahrt nach Portsmouth wurden sie ausgiebig mit detaillierten Vorträgen über die Geschichte der Gegend, in der Bruder Gabriel lebte, bedacht. Er erklärte ihnen genauestens, wie die Psychogeografie dieser Siedlung am Rand der Autobahn und in der Nähe geheimer Militärbunker einzuordnen war, zumal die Möglichkeit bestand, dass sich hier vor der Südküste einmal das sagenhafte Atlantis befunden hatte, weshalb bestimmte Energieströme das Land durchzogen und sogar den Empfang des Radios beeinträchtigten, das Kyle gerade eingeschaltet hatte, um dieser Vorlesung ein Ende zu bereiten. Aber er redete immer weiter und weiter. Am Ende eines jeden Satzes hob er mit ironischem Unterton die Stimme, bis Dan sich Ohrhörer einstöpselte und Kyle ihn bat, doch mal »einen Moment lang still zu sein«, damit »ich mich auf das Fahren konzentrieren kann, denn wir sind hier auf einer Autobahn und sitzen in einem fremden Wagen«.
In der Warteschlange am Fährhafen bekam Kyle eine SMS von Dan: Typ sieht aus wie ägyptische Mumie mit Harpo-Marx-Perücke. Noch ein Freak. Schmeißen wir ihn über Bord?
Kyle antwortete: Ich pack ihn an den Beinen, du an den Armen. Der Gedanke, dass sie mit dieser zerfledderten Gestalt den ganzen Tag verbringen und ihn dann auch noch auf der Rückreise ertragen mussten, war deprimierend. Was Bruder Gabriel auf der ganzen Fahrt allerdings so gut wie gar nicht erwähnte, war die Letzte Zusammenkunft.
Hinter Le Havre erkannte das Navi auf dem Weg zum Hof der Sekte nur noch den Ort Mortain. Der Hof hatte keine offizielle Adresse. Für die Kartografen und die Navi-Programmierer schien an dieser Stelle nur ein leeres Feld zu existieren. Von Mortain an benutzte Kyle eine Straßenkarte und die mit Markierungen versehenen Fotokopien einer Landkarte, die beim Drehplan gelegen hatte. Anscheinend waren sie schon wieder zu weit gefahren. Ganz bestimmt . Hier waren sie nicht richtig. Sie waren jetzt viel zu weit südlich von Mortain geraten.
Man kann es von der Straße aus nicht erkennen , hatte Max ihnen in einer seiner Nachrichten erklärt. Drei Kilometer hinter dem Dorf sehen Sie eine Weißeiche am Fuß einer Anhöhe. Gegenüber der Eiche ist das Tor. Man kann nicht bis zum Gehöft fahren. Sie müssen über das Tor klettern oder durch die Hecke gehen. Kann auch sein, dass da eine Mauer ist. Fragen Sie Gabriel. Aber direkt nördlich vom Tor werden Sie ein Wäldchen sehen. Wenn Sie erst mal die Eiche gefunden haben, finden Sie auch den Weg.
War diese jämmerliche Ansammlung von Häusern, die sie zuletzt passiert hatten, das Dorf gewesen? Die Gebäude hatten so dicht an der Straße gestanden, dass man kaum mit dem Auto hindurchkam. Erst recht nicht, wenn ihnen irgendwelche Bauernvehikel entgegenkamen, denen Kyle schon auf der Landstraße nur ungern begegnete. Das angebliche Dorf jedenfalls sah völlig verlassen aus, geradezu verfallen. Alle Fenster waren vernagelt.
Wie viele Häuser braucht man, damit man das Ganze als Dorf bezeichnen kann? Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts. Er konnte nicht mal Französisch. War noch nie auf dem europäischen Festland mit dem Auto herumgefahren. Sein Rücken war schweißnass, und er stellte sich vor, dass auf der Rücklehne des Leihwagens ein Rorschach-Muster zu sehen war, das in unregelmäßigen Abständen von den Schatten des Gebüschs oder der Zweige vorbeihuschender Bäume gestreift wurde, während er versuchte sich zu orientieren. Gleichzeitig hörte er der mechanischen Stimme des Navis und dem monotonen Geplapper von Bruder Gabriel zu, der gerade von einer Verschwörung der Tempelritter innerhalb der französischen Regierung faselte.
Als die Straße wieder breiter wurde, sodass man drehen konnte, vollführte er ein ungeschicktes Wendemanöver und fuhr den Weg zurück, den sie gekommen waren. »Kommt Ihnen hier irgendwas
bekannt vor, Gabriel?«, fragte er laut über die Kopflehne hinweg.
»Wie oft wollen Sie
Weitere Kostenlose Bücher