Der letzte Tag: Roman (German Edition)
ihm zu kommen. Leichtfüßig trat der alte Mann neben ihn und schaute sich das Foto an, das Kyle ihm zeigte. Dan blickte jetzt nicht mehr durch den Sucher, sondern hörte Kyle zu. Mehr musste er nicht wissen, um eine Aufnahme optimal hinzubekommen. »Ich möchte, dass Sie sich dort vor das Hauptgebäude stellen, an die Stelle, wo hier auf dem Foto die ganze Gruppe steht. Sie müssen nichts sagen. Okay? Sehen Sie das Foto hier?« Gabriel nickte. »Wir schneiden dann noch eine Aufnahme von diesem Foto dazwischen, und dann kommen Sie in Farbe. Wir blenden dann von einem Bild ins andere über, verstehen Sie? Das wird dann so eine Art Vorher-Nachher-Ding.«
»Wie lange wird das dauern?«
»Das hängt ganz von Ihnen ab.«
Der Blick, mit dem Bruder Gabriel jetzt die umliegenden Gebäude ansah, machte Kyle klar, dass es ziemlich schwierig werden würde, den alten Mann in eins der Häuser hineinzukriegen, es sei denn, er würde sich allmählich steigern, so wie Susan White. Als Bruder Gabriel mit zögernden Schritten auf das weiße Haupthaus zuging, flüsterte Dan: »Dem geht der Arsch auf Grundeis.«
Kyle wandte sich wieder dem Foto zu. Laut Bildunterschrift war darauf kein Mitglied der Sieben abgebildet. Es war das einzige Foto von der Farm, von dem Max wusste. Irvine Levine hatte es von einer Frau namens Sandy Wallace bekommen, die den Sektennamen Schwester Juno getragen hatte. Sie war schon vor längerer Zeit an Blutvergiftung gestorben. Sie hatte die Gruppe kurz vor der Spaltung verlassen.
Die Sektenmitglieder trugen zu ihren Kutten, soweit Kyle das erkennen konnte, alle Sandalen, die zweifellos ihren asketischen Lebensstil verdeutlichen sollten. Irvine Levine behauptete, dass in Frankreich die attraktiveren weiblichen Sektenmitglieder ständig ihre Kapuzen auf dem Kopf tragen, sich verschleiern und in der Nähe von Schwester Katherine bleiben mussten. Sie duldete keine
Konkurrenz. Aber auf diesem Foto konnte man die fünf abgebildeten Frauen deutlich erkennen. Sie waren jung und hübsch, von der Sonne gebräunt, und das lange Haar fiel ihnen anmutig über die Schultern. Die Frauen hatten Leinen in den Händen, und einige der Hunde waren zu sehen. Schwester Katherine hatte ihre »Vargs« sehr geliebt und die Huskys aus England mitgebracht. Die Hunde wurden besser ernährt als die Menschen.
Kyle las die Beschriftungen auf dem Plan, der den gesamten Komplex zeigte, um herauszufinden, welche Funktion die verfallene Blockhütte gehabt hatte. »Zwinger/Schule« war dort angegeben. »Sagen Sie mal, Gabriel, als Sie noch hier waren, mussten da die Kinder zusammen mit den Hunden in diesem Gebäude wohnen?«
Bruder Gabriel nickte. »Die Kinder, die auf dem Hof geboren wurden, wurden sofort nach der Geburt der Gemeinschaft übergeben. Die ganz kleinen Kinder wurden in kleine, selbst gezimmerte Bettchen gelegt, die älteren schliefen auf Matten«, erklärte der Alte mit entschuldigendem Unterton.
»In diesem grässlichen Haus? Zusammen mit den Hunden? Jesses«, murmelte Dan vor sich hin.
Kyle trat ins Bild und befestigte das Mikrofon an Bruder Gabriels Mantel.
Kyle hatte nie Interesse an einem Art-Direktor gehabt. Er wollte nicht, dass Orte interessant gemacht wurden. Aus Erfahrung wusste er, dass ein Drehort, wenn man nur lange genug und genau hinsah, von ganz allein seine Reize offenbarte. Jeder Ort hatte etwas Besonderes. So schäbig, kaputt und abgenutzt die Locations, die er filmte, üblicherweise auch waren, gerade dies machte ja ihre besondere Atmosphäre aus. Jedenfalls für ihn, und oftmals ergab sich gerade daraus ein besonderer Blickwinkel auf die Geschichte, die er erzählen wollte. Das war bei den ausgebrannten Holzhütten in Schottland so gewesen, die er für Hexenzirkel gefilmt hatte,
und auch bei dem schrecklichen, mit Graffitis übersäten Osloer Wohnhaus, das in Blutrausch eine wichtige Rolle spielte. Es war fast, als hätten die schlimmen Dinge, die einst dort passiert waren, den Orten ihren Stempel aufgedrückt und sie für immer gezeichnet. Einsamkeit und Verfall waren ihr Schicksal. Und dieser Bauernhof hier strahlte das mehr als jeder andere Ort aus.
Kyle spähte durch einen verwitterten Fensterrahmen in das große weiße Haupthaus. Dies war der vorletzte Ort, an den sich die Sekte von der Welt zurückgezogen hatte. Die Sonne schien durch die kaputten Fenster und durch die Flügeltüren, die auf den Hof hinausgingen, und erzeugte ein bräunliches, diffuses Licht im Innern. Unter den Sohlen von
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