Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Dans Stiefeln knirschte zerbrochenes Glas, als er die Kamera aufstellte, um eine Nahaufnahme im Außenbereich zu machen. Das Fenster war von innen nach außen zerschlagen worden.
Irvine Levine behauptete, seinen Quellen zufolge seien das Dach, die Fenster und die umliegenden Anbauflächen kurz nach der Spaltung bei einem schweren Sturm zerstört worden. Aber Irvine war nie an diesem Ort gewesen.
Kyle trat durch die Tür. Der deutlich wahrnehmbare Gestank von tierischem Urin ließ ihn zusammenzucken. Er vermischte sich mit dem Pilzgeruch, der von den schwarzen Sporen ausging, die sich über die Mauern ausgebreitet hatten. Hinzu kam ein Duft nach feuchtem Holz, und vielleicht war auch noch ein Hauch von Aas dabei.
»Dan!«
Dan kam hinter ihm durch die Türöffnung. »Schauderhaft.«
»Ich möchte das Innere gern für die Zwischenschnitte haben. Probier auch mal aus, wie es ohne Licht wirkt.«
»Geht klar.«
»Das hier wird richtig fies aussehen, Alter.«
»Willst du einen Text drüber sprechen?«
»Jetzt nicht. Nimm das einfach auf, und sorg dafür, dass es aussieht
wie bei Blutgericht in Texas . Und lass uns die Mikros aufbauen. Ich möchte diesen Ort hören.«
»Werde mein Bestes tun.«
»Das tust du immer. Und deshalb würde ich dir glatt einen Kuss geben, wenn du dir heute Morgen die Mühe gemacht hättest, dich zu rasieren.«
Dan schnaubte. »Gabriel will nicht reinkommen. Ich schätze, wir müssen seinen Part draußen aufnehmen.«
Kyle schaute demonstrativ nach oben. »Das hätte er uns auch in Wood Green erzählen können.«
Dan lachte auf und begann mit dem Aufbau für die Innenaufnahmen. Das gesamte Erdgeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum mit einer riesigen Feuerstelle, neben der auf einer Seite ein großer Herd stand. Der unebene Boden war aus Zement und übersät mit Schutt und Dreck, und ihre Füße versanken bis zu den Knöcheln in Staub und halbverrotteten Blättern. Herumliegendes Feuerholz, herausgefallene Ziegel, Erdklumpen und feuchter Mörtel kamen unter dem vergammelten Blattwerk zum Vorschein. Hier hatten die Sektenmitglieder ihre kargen Mahlzeiten zu sich genommen, abwechselnd in kleinen Gruppen. Unter der hohen Decke verliefen drei lange Holzbalken, darüber waren Holzbretter gelegt, die den Boden des oberen Stockwerks bildeten.
»Dan, mach ein paar Nahaufnahmen von dem Herd.«
Dabei fand Dan dann zwei farblose, verbeulte Kochtöpfe, die Überreste eines Besens und einen Packen Bücher, die sich bereits aufgelöst hatten.
»Die liegen hier noch rum?«, sagte Kyle und starrte überrascht auf die Metalltöpfe, die unter den dunklen Blättern zum Vorschein kamen. »Gabriel!«
Blass und missgelaunt stand Bruder Gabriel neben dem Herd, wo er einst einen dünnen Brei gegessen hatte, der aus irgendwelchem
Tierfutter bereitet worden war. Nicht mal der Gedanke, dass er das immerhin überlebt hatte, schien ihm Erleichterung zu verschaffen. Dabei hatte er sich wahrscheinlich so etwas Ähnliches erhofft, als er das Angebot von Max annahm und, wie er ihnen auf der Fähre mitgeteilt hatte, sich für seinen Auftritt in dem Film großzügig hatte entlohnen lassen.
»Bis der so weit ist, ist der Akku leer«, stellte Dan grinsend fest.
Kyle flüsterte Dan zu: »Eine Plattform. Endlich eine Kanzel, von der aus man predigen kann. Aber nicht gerade die, die Sie sich ausgesucht hätten, stimmt’s Gabriel?« Kyle nickte dem alten Mann zu und schlug die Klappe vor dem Kameraobjektiv. »Action.«
Bruder Gabriel räusperte sich. Dann trank er den letzten Rest des Wassers aus, das sich noch in seiner Flasche befand, obwohl er wirklich nicht mehr durstig sein konnte. Der schmale Mund inmitten des Vollbarts öffnete sich. »Es gab hier keinen Strom. Wir benutzten Petroleumlampen. Sogar das Wasser mussten wir aus dem Dorf hertransportieren. Wir schafften es in Eimern und Plastikkanistern her … das war sehr anstrengend.« Die trockene, ironische Art des geschwätzigen Besserwissers war verschwunden. Bruder Gabriel sprach jetzt abgehackt und stakkatoartig. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
Falls er sich so fühlt, dann nehmen wir es genauso auf. Je heftiger die Geschichte war, die er erzählen würde, umso besser für den Film. Vom ersten Satz an verbreitete der Mann eine Intensität, die man spüren konnte. Das hätte Kyle bei diesem Gabriel überhaupt nicht erwartet. Er hatte eher befürchtet, dass er vor der Kamera besserwisserisch und viel zu selbstbewusst wirkte. Und zum ersten
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