Der letzte Tag: Roman (German Edition)
sich umdrehte, schimmerte etwas im Spiegel auf. Die schmierige Reflexion eines Flecks auf der Wand gegenüber dem Waschbecken.
Kyle wandte sich um und trat vor den Handtuchhalter, über dem die Schlieren zu sehen waren. Er zitterte. Das lag bestimmt an den kalten Kacheln des Fußbodens unter seinen nackten Füßen. Die Kälte zog an seinen Beinen hoch und verursachte ihm Gänsehaut. Es lag sicher nicht an den Umrissen einer knochigen Gestalt mit skelettartigen Gebeinen, die er da an der Wand sah.
Nein, jetzt als er näher kam, sah es mehr wie der Abdruck einer Hand aus. Mit vier schmalen Fingern, die am letzten Glied leicht gekrümmt waren. Als würden sie von der anderen Seite her an der Wand kratzen.
Plötzlich drang ihm der Geruch nach vergammeltem Fleisch in die Nase, wie von der feuchten Unterseite eines alten Koteletts, das zu lange im Kühlschrank gelegen hatte. Er suchte die Handtücher, die vor ihm hingen, nach Schmutzspuren ab. Sie waren frisch und sauber wie ganz normale Hotelhandtücher. Und in
dem gelblichen Licht des Badezimmers wurde ihm nach anfänglicher Begriffsstutzigkeit mit einem Mal klar, wo er diesen Geruch schon wahrgenommen und diese Art Flecken schon gesehen hatte.
Mansfield Street, Marylebone, London
16. Juni 2011, 16 Uhr
»Guten Morgen, mein Lieber!« Max musste hinter der Tür gelauert haben, denn er stand schon vor ihm, kaum dass Kyle den Finger vom Klingelknopf genommen hatte. Er trug einen Hausmantel aus rotem Samt über einer eleganten Hose und einem weißen Hemd mit gestreifter Krawatte und rubinroten Manschettenknöpfen.
Er führte Kyle durch einen langen Korridor mit makelloser cremefarbener Seidentapete, indem protzige altmodische Möbelstücke standen. Man hatte den Eindruck, in einem Vorzimmer des Himmels zu sein, wie es in Hollywoodfilmen der Fünfzigerjahre dargestellt wurde. Der Duft nach Rosen und Politur hing in der Luft und verbreitete einen Hauch von altmodischem Savoir-vivre. Längliche Glasleuchten, die in die Decke eingelassen waren, strahlten ein intensives, fast schon grelles Licht aus, und auf dem blitzsauberen blau-weißen Marmorfußboden wirkten seine ausgelatschten Schnürstiefel völlig unpassend und unangenehm auffällig. Hier und da standen weiße Sockel mit dunklen Statuetten oder anderen aus Stein gefertigten Kunstgegenständen und gaben dem Ganzen einen antiken Anstrich. In einem großen Spiegel mit Goldrahmen sah er sein eigenes Abbild, in dem jede Pore und jede Falte seines unausgeschlafenen Gesichts zu erkennen war.
»Nette Wohnung, Max.«
»Vielen Dank.«
Er war ziemlich eilig von der U-Bahn-Station Regent Street zur Mansfield Road gelaufen und war erst langsamer geworden, als er gesehen hatte, welche Ausmaße das Gebäude hatte, in dem Max wohnte. Im Erdgeschoss hatte er dann in einem Eingangsbereich, der mindestens sechsmal so groß war wie seine ganze Wohnung, darauf gewartet, nach oben gebeten zu werden. Ein schwerer Teppich, dicker als ein Bärenfell, erstreckte sich über einen weitläufigen Marmorfußboden. Ein Portier in einer Uniform mit silbernen Knöpfen rief über das Haustelefon bei Max an, um ihn anzukündigen. Kyle schrieb seinen Namen in Druckbuchstaben in ein Besucherbuch und fügte seine Unterschrift hinzu. Das Buch war so groß wie ein Briefmarkenalbum und in Leder gebunden. Anschließend wurde er vom Portier zu den Edelstahltüren des Aufzugs eskortiert, die blank geputzt waren wie Spiegel.
Kaum hatte er die Tür aufgemacht, fing Max schon an, über die erlittenen Verluste und die Folgen zu referieren: »Gabriel wird in einigen Tagen zurück nach England geflogen und hier in ein Krankenhaus überführt. Die Operationen sind erfolgreich verlaufen, aber er hat sich leider eine Infektion zugezogen.«
Kyle zuckte zusammen. Und schwor, dass er Gabriel besuchen würde, auch wenn der Gedanke ihm eher unangenehm war, weil er sich zu einem gewissen Teil an seinem Unfall mitschuldig fühlte. Er war viel zu sehr mit seinen Filmaufnahmen beschäftigt und viel zu genervt von dem alten Mann gewesen, um sich nach dem Interview noch um ihn zu kümmern, so wie es eigentlich normal gewesen wäre. Und sein Schuldgefühl wurde noch verstärkt von dem völlig nutzlosen Drang, Gabriel nach dem zu fragen, was der Arzt Dan über die Vögel und die Hunde gesagt hatte. Eine Szene mit Bruder Gabriel im Krankenhausbett, nachdem er eine von Schwester Katherines Fallen überlebt hatte,
wäre sicherlich ziemlich schräg, geschmacklos und
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