Der letzte Tag: Roman (German Edition)
hatte.
»Danke.«
»Nichts zu danken. Ach, aber ich möchte Sie noch um einen Gefallen bitten, wenn ich darf?«
»Ja, sicher.«
»Bitte beschimpfen Sie mich nie wieder als Arschgeige.«
»Das war eine ziemlich heikle Situation, Max.«
»Aber wo habe ich denn meinen Kopf? Ich habe ja ganz vergessen, Ihnen etwas anzubieten. Kaffee? Ein kleiner Snack? Oder möchten Sie lieber bis zum Abendessen warten?«
Kyle war so erpicht darauf gewesen, Max zu treffen, dass er seit dem Verlassen der Fähre noch nichts gegessen hatte. Seit dem schrecklichen Traum hatte er auch nicht mehr geschlafen. »Ich könnte tatsächlich einen Happen essen, ich bin schon sehr früh aufgestanden«, sagte er und gähnte dabei.
Max ging zur Tür seines Büros und rief: »Iris!«
»Sir?«, antwortete eine Stimme weiter entfernt.
»Kaffee für zwei. Und Kuchen.«
Nach einem kurzen »Ja, Sir« als Antwort wandte sich Max wieder Kyle zu.
»Ziemlich gute Anlage, Max.«
»Ja. Ich sehe mir oft das Rohmaterial oder die Rohschnitte hier
an. Schaue zu, wie die Filme entstehen.« Der Schreibtisch sah aus, als hätte Cecil Rhodes vor über hundert Jahren einmal eine Karte von Afrika darauf gezeichnet. Max ließ seinen schmächtigen Körper in einen der breiten Ledersessel fallen, die leicht nach hinten gekippt werden konnten. Vor ihnen breitete sich ein Plasma-Bildschirm mit mindestens hundertzwanzig Zentimetern Diagonale aus. Kyle setzte sich auf den Sessel neben Max und suchte in seiner Schultertasche nach den sechs Speicherkarten mit den Filmaufnahmen aus der Normandie.
Iris war eine kleine rundliche Irin mit weißen Haaren auf dem Kopf und am Kinn. Sie brachte eine Kaffeekanne und eine gläserne Kuchenplatte. Darauf stand eine dicke, von einer Papierkrause umgebene Obsttorte, die viel zu gut aussah, um sie einfach aufzuessen. Iris schnitt sie mit einem silbernen Messer in Stücke und servierte sie auf zwei Tellern aus feinstem Porzellan mit kleinen Silbergabeln und roten Leinentüchern, die in silbernen Serviettenringen steckten. »Schmeckt nicht schlecht«, sagte Kyle mit vollem Mund. »Und macht satt.« Iris huschte hinaus und schloss die schalldichte Tür hinter sich.
Max begann mit dem Kopieren der Dateien auf den Speicherkarten. Er starrte die Verzeichnisse mit einem Ausdruck von Abneigung, ja sogar irgendwie beleidigt an. An seinem Stück Kuchen schien er kein Interesse zu haben. Kyle verschlang einen dritten Bissen von seinem Stück. Die aufgeladene Stimmung machte ihn geradezu gefräßig, als wäre dies seine letzte Mahlzeit.
»Ist das alles?«
Kyle nickte. »Finger Mouse wird heute Abend noch mit dem Rohschnitt anfangen.«
»Er soll alles sofort hochladen, wenn es fertig ist. Und Dan, wo ist der jetzt?«
»Muss einen anderen Job erledigen.«
»Gut, gut.«
»Ich sehe ihn morgen, dann können wir alle Details wegen des
Flugs nach Amerika besprechen.« Max schien nicht zuzuhören. Er glotzte auf die vor ihm liegenden Speicherkarten, als wären es Ampullen mit Erregern der Beulenpest.
»Max? Max!«
»Ja?«
»Wie ist Susan White gestorben?«
Max schloss die Augen. »Schlaganfall.« Er riss die Augen wieder auf. »Zu Hause. In ihrer Maisonette in Brighton. Ihre Tochter bekam sie nicht wach, als sie mit ihr einen Ausflug nach Bournemouth unternehmen wollte, beziehungsweise sie ging nicht ans Telefon. Das war gestern. Sie fuhr hin, schloss die Wohnung auf und fand sie dort. Starr auf ihren Kissen liegend. Sie lebte noch, aber es war hoffnungslos. Sie starb dann im Krankenhaus, ohne noch ein Wort zu sagen. Ich rief abends an, um mit ihr über das Interview zu sprechen. Ihre Tochter ging ans Telefon. Sie hat’s mir erzählt.«
»Waren Sie gut mit ihr befreundet?«
»Wir hatten uns Jahre nicht gesehen. Aber wir haben uns zuletzt öfter getroffen.«
»Traurig. Und irgendwie auch beängstigend.«
Max starrte vor sich hin, als fürchtete er eine drohende Enthüllung von Kyles Seite.
»Diese Dateien …« Kyle wusste nicht, wo er anfangen oder wie er erklären sollte, was auf dem Material zu sehen war. »Es ist das Gleiche wie mit den Aufnahmen aus der Clarendon Road. Irgendwas stimmt damit nicht.«
Max drehte sich lautlos auf seinem Sessel um. Legte eine seiner kleinen, manikürten Hände auf Kyles Handgelenk, wo sie zwischen seinen bebenden Knien leicht zitterte. Die Haut von Max’ Fingern war babyzart, ein Duft nach teurer Handcreme ging von ihr aus. »Dies ist eine schwierige Phase bei unserem Unternehmen, Kyle. Der arme
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