Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
Vom Netzwerk:
Wok, in dem über einem Feuer das Rindfleisch briet. Es roch nach heißem Öl, gerösteten Zwiebeln und karamellisiertem Palmzucker.
    »Dieser Junge«, sagte Ly und räusperte sich. »Magst du ihn?«
    »Papa«, sagte Huong in einem drohenden Tonfall. »Ich arbeite mit ihm. Sonst nichts.«
    Ly hob entschuldigend die Hände. »Ich höre schon auf. Aber du hättest mir zumindest erzählen können, dass du jetzt arbeitest.«
    »Du und Tierschutz.« Huong lachte. »Das hättest du sowieso nicht verstanden.«
    »Meinst du, ja?«
    »Dich interessieren Tiere doch nur, wenn sie auf dem Teller liegen oder im Schnaps schwimmen«.
    Ly biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er darauf erwidern? Er dachte an all die Schlangenschnäpse, die er in seinem Leben getrunken hatte. Dann warf er einen demonstrativen Blick in Huongs Schüssel mit dem Rindfleisch.
    »Rind ist was anderes«, sagte Huong und sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
    Ly fiel auf, dass sie fein gezupft waren. Sein kleines Mädchen wurde wirklich erwachsen.
    »Wieso was anderes?«, fragte er.
    »Uns geht es um wilde Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Zibetkatzen, Bären und so. Um Wildtiere eben.«
    »Die wurden bei uns immer schon gegessen. Und für die Medizin sind sie auch wichtig«, sagte Ly.
    »Ja, ja. Bärengalle gegen Lebererkrankungen, Schildkrötenblut für mehr Kraft. Und die Wurst aus Wildkatzen für die Potenz.« Sie verzog ihr Gesicht.
    »Das gehört zu unserer Kultur«, sagte Ly.
    »Früher konnte sich der König gebratene Bärentatze leisten oder Tigerknochenpaste gegen sein Rheuma. Nicht das halbe Volk.«
    »Man könnte die Tiere doch züchten. Dann müsste man keine wilden Tiere mehr jagen.«
    Huong schüttelte heftig den Kopf. »Dann hätten die es noch leichter, wilde Tiere in den Markt einzuschleusen. Die würden dann einfach sagen, es seien Zuchttiere. Das kann kein Mensch nachweisen. Und ein Tier aus dem Wald kostet nur eine Falle. Oder eine Patrone. Züchtest du eines, musst du es lange füttern, bis es groß ist.«
    »Solange das Angebot aber da ist … glaubst du wirklich, ihr könnt den Handel stoppen?«
    Huong stützte ihre Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hände. »Andersrum«, sagte sie.
    »Wie andersrum?«
    »Es ist die Nachfrage, die das Angebot bestimmt. Solange du die Tiere kaufst, werden sie weiter geschossen. Haben wir in Wirtschaft gelernt.«
    »Wirtschaft, ja? Ich dachte, ihr lernt vernünftigen Marxismus-Leninismus.«
    »Papa, echt.« Huong verdrehte die Augen. »Seit es uns besser geht, boomt die Nachfrage. Weißt du eigentlich, wie viele Wildtiere bei uns jährlich dran glauben müssen? Eine Million. Mindestens. Einfach aufgefressen oder zu irgendeiner Paste verkocht. Da ist bald nichts mehr übrig. Das kannst du mir glauben.«
    Ly sah Huong an. Zuerst hatte er gedacht, bei diesem Job ginge es ihr darum, dass soziales Engagement im Lebenslauf gut aussah. Aber ihr schien dieser Tierschutz wirklich wichtig zu sein.
    »Das Bewusstsein der Leute muss sich ändern«, sagte Huong und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Mit dem Zeigefinger glitt sie über das Display. »Hier, gerade fertig geworden.« Sie hielt Ly das Gerät hin und drückte auf den Startpfeil.
    Das Bild blieb schwarz. Aber es waren Schreie zu hören. Schmerzerfüllte, verzweifelte Schreie. Wie von einem gequälten Menschen. Ly spürte, wie sich in ihm etwas zusammenzog, und er atmete auf, als die Schreie endlich verstummten. Das Bild eines Mannes erschien. Er hielt ein Glas in der Hand und prostete dem Zuschauer lachend zu. Darunter die Worte »Frischer Gallensaft vom Bär«.
    Huong sah Ly neugierig an. Ihren Stolz konnte sie nicht verbergen. »Der Clip soll im Fernsehen gesendet werden. Wie findest du ihn?«
    »Das hast du gedreht?«, fragte Ly.
    »Nicht alleine. Aber ich war dabei. Wir haben es heimlich auf einer dieser Bärenfarmen aufgenommen. Die haben dem Bären ewig mit einer Kanüle im Fleisch rumgepuhlt, bis sie die Gallenblase gefunden haben.«
    Ly schluckte. Natürlich wusste er, wie den Bären derGallensaft, der besonders gut gegen Rückenschmerzen und Prellungen wirken sollte, abgezapft wurde. Aber so bildlich hatte er sich das noch nie vorgestellt.
    *
    Es war Mittag, als Ly losfuhr. Die Ausfallstraße Nummer 6 aus der Stadt heraus war eine einzige Baustelle. Über lange Strecken war der Asphalt aufgerissen, zusätzliche Spuren wurden gegossen, und die Fundamentarbeiten für die Pfeiler des neuen Sky Trains waren im Gange. Mit

Weitere Kostenlose Bücher