Der letzte Tiger
irgendwelchen Typen rumfahren.«
»Papa!«
»Nach der Sache mit diesem Son. Das solltest du doch gelernt haben.« Es war erst einige Monate her, dass Huong in eine von Lys Ermittlungen hineingezogen worden war. Ein Junge namens Son hatte sie damals an den Tay-Ho-Tempel oben am Westsee gelockt, genau dorthin, wo kurz zuvor eine junge Frau ermordet worden war. Das war eine Drohung gewesen, die Ly gegolten, aber auch Huong in Panik versetzt hatte.
»Das war ja nicht meine Schuld.«
»Du bist erst sechzehn, verdammt noch mal.« Ly schrie jetzt.
»Ich bin siebzehn.« Huong hatte ihren Arm aus seinem Griff befreit, drehte sich mit einem Ruck um und stapfte weg. Sie sah ihn über die Schulter noch einmal mit funkelnden Augen an, verschwand in der Wohnung von Lys Bruder, die von dem Gang im Erdgeschoss abging, und knallte die Tür laut hinter sich zu.
Ly atmete schwer. Wütend stieg er die Metallstiege zu ihrer eigenen kleinen Wohnung hinauf. Thuy stand am Herd in der winzigen Küche, in der Hand ein großes Messer. Einzelne Haarsträhnen klebten ihr auf der Stirn.
»Was war das für ein Geschrei?«, fragte sie.
»Huong«, stieß Ly hervor. »Sie macht nur noch, was sie will.«
Thuy lächelte. »Was erwartest du? Sie ist deine Tochter.«
Ly schnaubte. »So ein Typ hat sie nach Hause gebracht.«
»Wer?«, fragte Thuy weiter.
»Lam.«
Thuy legte das Messer weg und wusch einen großen frischen Tintenfisch unter dem Wasserhahn. In der Pfanne über dem Gas duftete Knoblauch in Öl. »Du bist doch nicht eifersüchtig?«
»Sag mal.« Ihre Frage stachelte seinen Ärger nur weiter an. »Der ist viel zu alt für sie. Und überhaupt. Du hast ihn nicht gesehen.«
Thuy strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wie hübsch sie dabei aussah, genau wie Huong, dachte Ly.
»Lam ist nur zwei Jahre älter als Huong. Und er ist in Ordnung. Die beiden arbeiten zusammen«, sagte Thuy, während sie den Tintenfisch in schmale Streifen schnitt.
»Arbeiten?« Jetzt war Ly vollkommen verwirrt.
»Sicher. Sie hilft doch neben der Schule bei dieser Tierschutzorganisation aus«, sagte sie und warf die Tintenfischstreifen in das siedende Öl. »Hat sie dir das nicht erzählt?«
*
Ly ärgerte sich – mehr noch über seine Frau als über seine Tochter. Thuy hätte ihm das mit Huongs Job erzählen müssen.
Nach einem schweigsamen Abendessen fuhr Ly zu Minh ins bia hoi , wo er den Rest des Abends verbrachte. Er trank zu viel und begann, sich jetzt vor allem über sich selbst zu ärgern. Huong war fast volljährig, er konnte sie nicht mehr wie ein kleines Mädchen behandeln. Und mit Thuy hätte es ein schöner Abend werden können, sie hatte für ihn gekocht, was selten genug vorkam. Stattdessensaß er jetzt alleine im bia hoi . Nicht mal Minh gesellte sich zu ihm. Zwei seiner Bedienungen waren krank, und er musste für sie einspringen.
*
Am nächsten Morgen musste Ly sich seinen Antrag auf Urlaub noch von Parteikommissar Hung absegnen lassen. Drei Tage gewährte er ihm. Nicht viel, aber immerhin mehr, als Ly überhaupt noch zustand. Seine fünfzehn Tage Jahresurlaub hatte er schon genommen. Er war im Sommer mit seinen Kindern in Nha Trang am Meer gewesen. Thuy hatte da unten eine Reisegruppe betreut.
Vom Präsidium fuhr Ly noch einmal nach Hause. Bevor er in die Berge aufbrach, wollte er sich mit seiner Tochter versöhnen. Er hatte sie seit ihrem Streit gestern nicht mehr gesehen. Zum Abendessen war sie nicht gekommen, und übernachtet hatte sie unten im Haus bei ihrer Cousine.
Da heute einer dieser Tage war, an dem sie erst nachmittags Unterricht hatte, lagen die beiden Mädchen noch immer im Bett und hörten Musik.
Ly wartete kurz, bis seine Nichte aus dem Zimmer geschlurft war, und entschuldigte sich bei Huong. Er sah ein, dass er überreagiert hatte. Trotzdem fiel es ihm schwer, die Worte auszusprechen. Huong sah ihn kurz mit trotzigem Blick an, dann grinste sie und in ihren Wangen bildeten sich die Grübchen, die Ly so mochte. Er spürte, wie dieses Glücksgefühl, das er nur bei seinen Kindern empfand, ihm durch den Körper fuhr.
Ly lud Huong zu bun bo nam bo in die Hang-Dieu-Gasse ein. Die Reisnudeln mit dünnem Rindfleisch, Erdnüssen, Salat und einer süßen und gleichzeitig leicht scharfen Soße waren eines von Huongs Lieblingsgerichten.
Der Laden, der sich über zwei Etagen erstreckte, war voll, wie zu fast jeder Tageszeit. Was für eine Goldgrube, dachte Ly. Sie fanden einen freien Tisch ganz vorne neben dem großen
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