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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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Untersuchungshaftanstalt führte Le My Lien in den Raum und drückte sie grob auf einen Stuhl. Sie trug jetzt den grauen Hosenanzug der Untersuchungshäftlinge. Unter ihrem linken Auge hatte sie einen dunklen Bluterguss, der Ly beim letzten Mal noch nicht aufgefallen war. Füße und Hände lagen in Ketten.
    Sie mochte mit Tieren gehandelt haben. Trotzdem gefiel Ly nicht, wie er sie hier sah. Sie wurde alleine für etwas verantwortlich gemacht, an dem so viele mitwirkten. Er selbst konnte sich da nicht ausnehmen und versuchte, den Anflug eines schlechten Gewissens zu unterdrücken. Er wies den Wärter an, ihr die Handfesseln zu lösen. Die Frau würde ihn schon nicht anfallen.
    Le My Lien rieb mit den Fingern über ihre wunden Gelenke und sah Ly aus trüben Augen an.
    »Frau Lien«, sagte Ly in einem möglichst freundlichen Tonfall. Er hatte das Gefühl, das war es, was sie jetzt brauchte. »Reden Sie mit mir. Dieser Tiger vom Literaturtempel, woher kam er?«
    Sie schwieg. Ihre Kiefer mahlten.
    »Ich weiß, dass der Tiger in Ihrer Kühltruhe aus dem Hanoier Zoo kam«, sagte Ly. »Und ich weiß, dass Sie es waren, der ihn gekauft hat.«
    Le My Lien zuckte zusammen, und Ly wartete einen Moment, bevor er fortfuhr. »Was ist mit den anderen Tieren bei Ihnen im Haus? Waren die auch aus dem Zoo?«
    Le My Lien atmete tief ein, ihr Brustkorb hob sich.
    »Waren sie?«
    »Ich habe früher schon mal Affen vom Zoo bekommen«,sagte Le My Lien mit schwacher Stimme. »Aber diesmal war es nur der Tiger.«
    Ly rückte mit dem Stuhl näher an sie heran. Die Stuhlbeine schabten über den Steinboden. Er beugte sich so weit zu ihr vor, dass sein Mund vor ihrem Ohr war. »Was ist mit den anderen Tieren?«
    »Ich …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab doch schon gesagt, die haben mein Haus nur als Lager benutzt. Ich weiß es nicht.«
    »Und der Zoo-Tiger? Der kam nicht von diesen Leuten, oder? Das war ihr privates Geschäft.«
    »Mein Sohn«, flüsterte sie. »Er hat Schulden.«
    »Ich denke, er ist in Dubai?«
    »Ich wollte so gerne, dass er wieder nach Hause kann. Deswegen habe ich …« Sie stockte und wischte sich mit der Hand über die Augen.
    »Woher hatten Sie die zehntausend Dollar für den Tiger?«
    »Geliehen.«
    Jetzt war es Ly, der den Kopf schüttelte. Sie hatte sich zehntausend Dollar geliehen, auf einen hohen Profit hoffend, wenn sie die Knochen in Paste verarbeitet bekommen hätte. Und nun hatte sie nichts als Schulden. Die Frau tat ihm leid, aber davon durfte er sich jetzt nicht aus dem Konzept bringen lassen. »Die Zoodirektorin hat Ihnen das Tier verkauft. Wer im Zoo wusste noch von dem Verkauf?« Der Tiger war nicht das erste Tier aus dem Zoo, das Le My Lien gekauft hatte. Truong musste doch etwas davon mitbekommen haben.
    »Ich hatte nur Kontakt zu der Direktorin«, sagte sie.
    »Niemand sonst wusste davon?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Und die, die all die anderen Tiere in Ihrem Haus gelagert hatten. Wissen die von Ihrem kleinen privaten Nebengeschäft?«, setzte Ly nach.
    Le My Lien riss die Augen auf und fuhr hoch. Ihre Körperhaltung hatte für einen Moment etwas Aggressives. Der Wärter, der die ganze Zeit schweigend neben der Tür gestanden hatte, trat sofort einen Schritt auf sie zu. Doch da ließ sie sich schon wieder auf ihren Stuhl fallen. Ihr kurzer Ausbruch schien sie vollkommen erschöpft zu haben.
    Vorbei an dem oder den anderen Tierhändlern hatte Le My Lien versucht, ihr eigenes Geschäft zu machen. Da war ihre Angst berechtigt, dachte Ly. Diese Art von Leuten duldete so etwas sicherlich nicht.
    *
    Von der Untersuchungshaftanstalt fuhr Ly zu Minh ins bia hoi . Es war ein angenehm warmer Abend, und es war noch nicht allzu viel los, so dass Minh Zeit hatte, sich zu Ly zu setzen. Eine Kellnerin stellte einen tragbaren Herd mit einem Topf heller Brühe auf den Tisch und brachte Bier, in Sesam- Öl mariniertes Ziegenfleisch, Wasserspinat, Pilze, Reisnudeln und einen Korb frischer Kräuter. Minh drehte den Hahn des Herds auf, bis blaue Flammen hochschlugen. Sobald die Brühe dampfte, hielt Ly mit den Stäbchen kurz ein Fleischstück hinein und aß es pur. Es war zart und saftig.
    Sie aßen, ohne zu reden. Eigentlich hatte Ly Minh von seinen Ermittlungen erzählen wollen. Doch er war zumüde und ließ es bleiben. Auch Minh sagte nichts, aber das war egal. Zwischen ihnen wurde es nie unangenehm, wenn sie schwiegen.
    Ly beobachtete die fliegenden Händlerinnen, die mit ihren Körben am Schulterjoch vorbeiliefen.

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