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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Luttmer
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auch noch?«
    Ly sagte nichts, blieb einfach in der Türöffnung stehen.
    Ngoc stieß ihn mit der Schulter beiseite und zwängte sich durch die Öffnung.
    »Ngoc«, rief Ly ihm leise hinterher und machte einen Schritt nach draußen.
    Sein Schwager drehte sich um und trat nah an Ly heran. »Misch dich bloß nicht auch noch ein.«
    »Lass Tam in Ruhe.«
    »Sie ist meine Frau. Das geht dich gar nichts an.«
    »Und ob«, sagte Ly.
    »Nein, verflucht.«
    Wie eine Welle strömte die Wut durch Lys Körper. Bleib ruhig, sagte er sich, lass dich von dem nicht provozieren. Er atmete tief durch. »Ich warne dich, lass die Finger von meiner Schwester. Wenn du sie noch einmal schlägst …«, sagte er durch zusammengebissene Zähne.
    »Du warnst mich?« Ngoc lachte. »Du?«
    In dem Moment schnellte Lys Faust vor. Unter seinen Knöcheln fühlte er Fleisch, das über Knochen rutschte und nachgab. Ngoc stöhnte auf, krümmte sich, die Hände über dem Gesicht. Ly sah ihn an und musste lächeln. Endlich, dachte Ly. Das hätte er viel früher tun sollen.
    Rückwärts trat Ly wieder ins Haus und zog schnell die Gittertüren hinter sich zu. Er spürte, wie Ngoc versuchte, von außen aufzuziehen, doch er hielt dagegen. Ngoc fluchte.
    »Ly!« Es war seine Mutter, die rief. »Ly! Was ist da los?«
    »Nur die Nachbarn«, antwortete Ly, schloss ab und ging durch den dunklen Gang in den Hof und die Stiege zu seiner Wohnung hinauf.
    Oben vor der Tür zog er seine Schuhe aus und schlich hinein. Huong und Duc lagen im Bett und schafften es mal wieder, den gesamten Platz einzunehmen. Thuy schlief auf der Matte auf dem Boden.
    Gerne hätte er jetzt noch etwas getrunken, aber die Flasche Weißwein, die im Kühlschrank gestanden hatte, lag leer in der Spüle. Thuy trank in letzter Zeit auch gerne mal ein Glas.
    Ly legte sich neben sie, stopfte sich ein Kissen unter den Kopf und versuchte, auf dem harten Boden eine bequeme Schlafposition zu finden. Halb schon im Schlaf fiel ihm sein leerer Akku ein. Er steckte noch schnell das Kabel seines Mobiltelefons zum Aufladen in die einzige freie Steckdose.
    *
    Ly hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als ihn das Klingeln seines Telefons weckte. Er setzte sich auf und tastete über Thuy hinweg nach dem Telefon.
    »Hauptkommissar Pham Van Ly?«, fragte eine Stimme, die Ly nicht kannte.
    »Ja.«
    »Störe ich?«
    »Was denken Sie denn.«
    »Entschuldigen Sie«, sagte der Anrufer, setzte dann aber in abgehackten Sätzen an zu erzählen.
    Während Ly noch zuhörte, stand er auf, warf sich ein Hemd über und suchte nach seinen Socken. Als er auflegte, war er hellwach.
    Der Anrufer war einer der Wärter aus der Untersuchungshaftanstalt gewesen. Um Mitternacht habe ein Schrei die Wärter bei ihrem Kartenspiel unterbrochen. Sie seien sofort losgerannt, versicherte der Anrufer. Die Art allerdings, wie er das betonte, ließ Ly vermuten, dass die Männer erst in Ruhe ihr Kartenspiel beendet hatten.
    Der Schrei war aus der Zelle von Le My Lien gekommen. Eigentlich hatte sie in einer Gruppenzelle sein sollen, doch aus irgendeinem Grund war sie am Tag zuvor in eine Einzelzelle verlegt worden. Die Wärter öffneten zuerst nur die Sichtklappe zur Zelle. Auf dem Boden der Zelle lag eine Schlange, den Kopf aufgerichtet, zischend. Der Mann sagte, es sei eine dieser aggressiven Giftnattern gewesen, wie sie in den Reisfeldern lebten. Es dauerte eine Weile, bis einer der Wärter den Mut aufbrachte, die Zellentür zu öffnen. Er erschlug die Schlange mit einer Schaufel, die von Bauarbeiten im Gefängnishof zurückgeblieben war. Doch sie hatte schon zugebissen. Als der Notarzt eintraf, konnte er bei Le My Lien nur noch eine tödliche Atemlähmung feststellen.
    *
    Als Ly am späten Vormittag endlich aus dem mit tinh mit dem Parteikommissar und all diesen Uniformierten der Haftanstalt kam, dröhnte ihm der Kopf. Zu viel Gerede, bei dem nichts herumgekommen war.
    Von Seiten der Untersuchungshaftanstalt wurde der Tod Le My Liens als Unfall abgetan. Parteikommissar Hung schloss sich da an. Auch wenn er es etwas geschickter formulierte, sagte er doch im Kern, dass der Tod Le My Liens unter den Tisch gekehrt werden sollte.
    Typisch, dachte Ly. Ein Häftling, der in der Untersuchungshaft zu Tode kam, war nicht gut für das Ansehen des Systems.
    Er brauchte frische Luft. Er ging in das kleine Café, das gleich um die Ecke des Präsidiums in der Hofeinfahrt zu einer alten Kolonialvilla seine Tische aufgebaut hatte. Ein

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