Der letzte Tiger
ermordet worden ist. Hat er Ihren Handel entdeckt? Deswegen der Stromschlag? Sie wollten verhindern, dass er es publik macht.«
»Das meinen Sie nicht ernst, oder?«
»Doch«, sagte Ly. Er musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. »Sie haben das Recht zu schweigen und einen Verteidiger zu Rate zu ziehen. Sie können auch Beweisermittlungsanträge stellen«, spulte er den Standardsatz herunter, ohne ihm besonderes Gewicht zu verleihen.
»Kommissar, bei allem Respekt. Aber das habe ich nicht nötig«, sagte die Direktorin.
»Sie haben ein Motiv«, sagte Ly, obwohl er sich da nicht so sicher war. Sie hatte ja sofort den Verkauf zugegeben und sich mit dieser veralteten Lizenz gerechtfertigt. Und sie wirkte nicht wie jemand, der so verzweifelt war, einen Mord zu begehen, nur um ihre Tat zu vertuschen.
Wieder klingelte Lys Telefon. Diesmal nahm er ab. »Hallo?«, raunzte er in den Hörer. Dieses Sturmklingeln nervte ihn.
»Herr Ly, Ihr Sohn hat Bauchschmerzen. Könnten Sie ihn bitte abholen?« Es war die Direktorin aus Ducs Schule.
Verdammt. Das kam jetzt wirklich zum ungünstigsten Zeitpunkt. Thuy war mit einer Reisegruppe zur Phat-Diem-Kathedrale gefahren und würde erst am späten Abend wieder in der Stadt sein. Es war also an ihm, Duc abzuholen.
»Ich bin mitten in einem Verhör«, sagte Ly. »Es kann noch etwas dauern.«
»Es geht ihm nicht gut. Schicken Sie bitte jemanden vorbei. Oder nehmen Sie sich selbst die Zeit für Ihr krankes Kind.«
Ly presste die Lippen zusammen. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand versuchte, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Trotzdem sollte er jetzt losfahren. Tu und Lan mussten das Verhör alleine zu Ende führen.
*
Ly nahm den Weg über den Deich zurück. Er war staubig. Aber so war er schneller, als wenn er die Straße durch die Stadt genommen hätte. Als er um die Straßenbiegung zur Schule bog, sah er Duc vor dem Tor stehen. Er kickte eine leere Plastikflasche gegen die Mauer und rannte Ly entgegen, als er ihn kommen sah. Dann bremste er ab, drückte seine Hand auf den Bauch und setzte eine leidende Miene auf. Ein besonders guter Schauspieler war er nicht, dachte Ly verärgert.
»Duc«, sagte er streng. »Du weißt, dass ich arbeiten muss.«
»Ich hab wirklich Bauchweh.«
»Du hattest nicht zufällig eben Mathe?«
Darauf antwortete Duc nicht, sondern guckte nur auf seine Zehenspitzen, die aus neongrünen Sandalen schauten. Ly seufzte, hob Duc hoch, gab ihm einen Kuss auf die Wange und setzte ihn auf die Vespa. »Ich fahr dich jetzt zu Oma. Da legst du dich ins Bett«, sagte er. »Und denk bloß nicht, du darfst fernsehen.« Aber natürlich wusste Ly, sobald er weg war, würde seine Mutter ihrem geliebten Enkel den Fernseher einschalten.
*
Fast zeitgleich mit Lan und Tu kam Ly wieder im Präsidium an. Etwas kleinlaut sagte Lan ihm, dass sie den Parteikommissar noch vom Flughafen aus kontaktiert hatten, um ihn über die Entwicklung in dem Fall zu unterrichten. »Wir dachten, weil die Zoodirektorin doch politisch so gut vernetzt ist.«
»Und? Was hat der Chef gesagt?«
Wie Ly nicht anders erwartet hatte, war der Parteikommissar wenig begeistert gewesen über die Verbindung zwischen der Zoodirektorin und dem Tierfund im Haus an den Gleisen. Er hatte angeordnet, sie dürften vorerst nichts gegen die Zoodirektorin unternehmen. Er müsse sich erst mit Richter Cang und den Genossen vom Volkskomitee besprechen und werde ihnen Bescheid geben, ob und wann ein Termin für eine weitere Vernehmung angesetzt werde. Bis dahin dürfe nichts an die Öffentlichkeit gelangen.
»Wir sollen den Fall ruhen lassen?«, fragte Ly.
Lan setzte ein etwas gequältes Lächeln auf. »Nein, sollen wir nicht. Wir sollen uns um den Tiger vom Literaturtempel kümmern. Der sei ja nicht aus dem Zoo. Und überhaupt viel wichtiger.«
»Was ist mit Truongs Tod? Hast du den Chef darauf noch mal angesprochen?«
»Hab ich.«
»Und?«
»Bis du nicht die Sache mit dem Tiger vom Literaturtempel geklärt hast, sollst du dich hüten, in irgendeinem anderen Fall zu ermitteln.«
»Und wenn die Zoodirektorin den Mord in Auftrag gegeben hat?«
»Hab ich auch versucht zu fragen. Aber den Satz durfte ich nicht einmal zu Ende bringen«, sagte sie.
Ihnen blieb also nichts anderes übrig, als den Literaturtempel-Tigerfall schnell aufzuklären.
*
Das Licht fiel in schrägen Strahlen durch das winzige vergitterte Fenster des Verhörzimmers im Erdgeschoss des Präsidiums. Ein Wärter der
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