Der letzte Vampir
anderen Trumpf hatte sie gerade nicht in der Hand. »Sie haben einen leichten Akzent.« Außerdem hatte sie gelesen, dass seine Untersuchung im Fall Lares in Wheeling begonnen hatte, doch dieses Detail unterschlug sie.
»Eigentlich aus North Carolina«, erwiderte er. »Links.«
Sie schäumte innerlich und bog langsam in die Straße ein, die er angezeigt hatte. Sie sah mehr wie ein Feldweg aus. Im Scheinwerferlicht konnte sie erkennen, dass er einst gepflastert gewesen war, aber die Zeit hatte die Pflastersteine in zerklüftete Trümmer verwandelt, die einen Reifen aufschlitzen konnten, wenn man zu schnell fuhr. Die Strecke führte zwischen zwei Hainen flüsternder Bäume hindurch, Ahorn und Eschen. Eine dichte Blätterschicht bedeckte den Boden, ein Hinweis darauf, dass diese Straße nirgendwo hinführte als in die tiefe Vergangenheit. Aber vielleicht auch nicht – der Weg war an keiner Stelle versperrt. Möglicherweise hatte jemand versucht, dem Ort eine abschreckende Wirkung zu geben, aber den Zugang hatte niemand blockiert.
»Es gibt keinen Parkplatz, schon seit fünfzig Jahren nicht mehr. Sie können direkt bis zum Rasen fahren und dort irgendwo anhalten«, befahl Arkeley.
Den Rasen? Sie sah nur einen immer dichter werdenden Forst, dunklen Wald, der Pennsylvania vor Jahrhunderten zu seinem Namen verholfen hatte. Die Bäume erreichten eine Höhe von zwanzig Metern, an einigen Stellen wuchsen sie noch höher. Dann riss das Licht der Scheinwerfer den Rasen aus der Dunkelheit.
Es handelte nicht um die gepflegte Fläche, die sie erwartet hatte. Es war eher ein brachliegendes Feld, das vom Unkraut aggressiv zurückerobert wurde. Allerdings konnte sie niedrige Steinmauern ausmachen und in der Ferne sogar einen stillgelegten Springbrunnen, der mit grünen und schwarzen Algen bedeckt war. Sie hielt den Wagen an, und sie stiegen aus. Dunkelheit hüllte sie wie Nebel ein, nachdem die Autoscheinwerfer erloschen. Arkeley ging sofort auf den Springbrunnen zu. Sie folgte ihm, und dann sah sie ihr Ziel im Sternenlicht aufragen. Ein gewaltiges Konstrukt aus Ziegelsteinen, viktorianischer Stil, mit Giebeln und Nebenflügeln, die vom Hauptgebäude ausgingen. An einer Seite erhob sich ein Gewächshaus, das so gut wie keine Scheiben mehr aufwies, nur noch ein mit Schlingpflanzen überwuchertes Stahlskelett. Ein Flügel auf der anderen Seite war vollständig eingestürzt und teilweise niedergebrannt, möglicherweise vom Blitz getroffen. Ein Basrelief aus Zement über dem Haupteingang verkündete den Namen dieses Ortes:
ARABELLA FURNACE
STATE HOSPITAL
»Lassen Sie mich raten«, sagte Caxton. »Sie haben mich zu einem stillgelegten Irrenhaus gebracht.«
»Völlig daneben«, erwiderte er. Dieses Mal war sein Lächeln anders. Es erschien beinahe wehmütig, als wünschte er, es handelte sich um ein Irrenhaus. Sie kamen zu dem Springbrunnen, und er legte eine Hand auf den geborstenen Stein. Sie schauten gemeinsam zu der Frauenstatue hoch, die eine in die Hüfte gestemmte große Urne ausgoss. Die Urne war allerdings schon vor Jahren ausgetrocknet. Caxton konnte dort, wo das Wasser herausgesprudelt war, den Rost sehen. Der freie Arm der Statue, ungefähr doppelt so groß wie ein menschlicher Arm, streckte sich ihnen wohlwollend oder auch grüßend entgegen. Ihr Gesicht war völlig zerfressen, und es war nicht mehr ersichtlich, welchen Ausdruck sie den Besuchern einst gezeigt hatte. Saurer Regen, die Zeit oder vielleicht auch Vandalismus hatten ihre Züge ausgelöscht, bis die Kopfvorderseite nur noch eine Maske aus zerklüftetem Stein darstellte.
»Das war kein Irrenhaus, es war ein Sanatorium. Hierher schickte man Tuberkulosepatienten zur Kur«, erklärte Arkeley.
»Hat es funktioniert?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Im ersten Jahr starben drei von vier Patienten. Der Rest siechte weiter vor sich hin. Die Gesundheitsbehörden wollten sie hauptsächlich aus dem Weg schaffen, damit sie niemanden mehr anstecken konnten. Die Behandlung bestand aus frischer Luft und einfacher körperlicher Arbeit, mit der sie ihren Aufenthalt bezahlten. Immerhin erhielten die Patienten drei Mahlzeiten am Tag und so viele Zigaretten, wie sie rauchen konnten.«
»Das ist nicht Ihr Ernst. Zigaretten für Leute mit einer Lungenerkrankung?«
»Die Zigarettenindustrie hat dieses Haus gebaut, genau wie alle anderen dieser Sanatorien im ganzen Land. Vermutlich hatten sie den Verdacht, dass eine Verbindung zwischen Rauchen und Tuberkulose
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