Der letzte Walzer in Paris - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Nicht nur durch die Tatsache, dass der hohe Geldbetrag, den sie gestern abgehoben hat, spurlos verschwunden ist. Auch die fremden Fingerabdrücke auf Handtasche und Geldbörse lassen darauf schließen, dass das Portemonnaie durchsucht und das Papiergeld möglicherweise gestohlen wurde. Da die Wohnungstür nicht gewaltsam aufgebrochen wurde
und es keine Kampfspuren gibt, muss sie ihren Mörder gekannt haben.«
»Ein glasklarer Fall also«, meinte Franck ein wenig ironisch. »Fehlt nur noch der Täter.«
»Jean-Marc, Sie hören sich nochmal in der Nachbarschaft um. Befragen Sie die anderen Hausbewohner, die Geschäftsleute in der Straße. Mit wem die Frau Umgang pflegte, wer sie besuchte. Und Sie, Claudine, recherchieren bitte, ob es in den letzten Jahren hier in der Stadt und im Umland ähnlich gelagerte Mordfälle gab, die nie aufgeklärt wurden. Franck und ich fahren jetzt zur Bank. Wenn Sie noch nicht zu Mittag gegessen haben, Franck, dann holen Sie sich rasch in der Kantine ein Sandwich.«
»Nicht nötig, Chef. Hab mir vorhin auf der Rückfahrt von der Gare de Lyon ’ne Pizza mit ins Auto genommen.«
»Also dann. Nächste Talkrunde um achtzehn Uhr.«
11. September 2001
Der Nebel hatte sich nicht gelichtet. Hin und wieder lugten die elektrischen Oberleitungen aus dem milchigen Himmel hervor wie abgebrochene Streben.
Die wenigen Menschen, die ihm auf der Straße begegneten, glitten wie Schemen vorüber. Der Nebel verschluckte sie ebenso schnell, wie er sie ausspuckte.
Er hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen und beide Hände in den Taschen vergraben. Die Schuhe, die sein Cousin ihm geschenkt hatte, drückten an den Zehen. Schon gestern hatten sich dort Blasen gebildet. Wenigstens waren sie fast neu und würden ihn über den Herbst und Winter bringen.
Die Straße mit ihren tristen Büro- und Lagerhäusern führte direkt in die Zone. Dort hielten sich viele Menschen auf Sie eilten geschäftig hin und her. Manche hatten es weniger eilig, andere standen einfach nur da und warteten.
Beim Durchsuchen der fünfzehn Abfallkörbe ging er systematisch vor. Er begann an der westlichen Seite und setzte seine Suche im Uhrzeigersinn fort. Er war
dabei nicht der Einzige. Er sah den Alten mit dem Krückstock, der sich in der Mitte der Zone zu schaffen machte und sich bereits die Taschen vollstopfte. Er musste sich beeilen, bevor die anderen kamen. Rothaut mit dem Feuermal im Gesicht. Oder Mimi, die Schlampe mit der pockennarbigen Haut. Früher waren sie und Dolly einmal befreundet gewesen. Doch irgendwann war es in die Brüche gegangen, er wusste nicht, wodurch. Seit dieser Zeit machte Mimi obszöne Gesten, wenn sie ihn sah. Stieß bedrohliche Zischlaute aus, spuckte ihn an. Besser, er begegnete ihr nicht, dieser Schlampe.
Er zog eine Plastiktüte aus der Jackentasche. Mit geübtem Griff durchforstete er die Abfälle. Essensreste steckte er nur in die Tüte, wenn es sich lohnte. Wichtig waren Flachmänner mit Schnapsresten, auf die Dolly scharf war. In einem der Abfallkörbe fand er einen Einwegrasierer. Den würde er irgendwann brauchen. Er steckte ihn in die Jackentasche.
So verging der Vormittag. Der Lärmpegel in der Zone war ein vertrautes Geräusch, das so etwas wie Geborgenheit versprach.
Als er Hunger verspürte, zog er ein Sandwich aus der Plastiktüte, in das der Vorbesitzer nur einmal hineingebissen hatte. Es war mit Hühnerfleisch und Salatblättern belegt - eine seltene Köstlichkeit. Er stellte sich in eine ruhige Ecke in der Zone und kaute langsam und beinahe genüsslich. Schade, dass er nichts zu
trinken hatte! In der Plastiktüte befanden sich zwei Flachmänner mit Schnaps (der eine halb leer, der andere noch drei viertel voll), doch er trank keinen Alkohol. Daran war Dolly schuld. Weil sie sich jede Nacht betrank, hatte er beschlossen, nie auch nur einen Tropfen anzurühren. Wenig später betrat er die öffentliche Toilette in der Zone und hielt seinen Mund unter den Wasserhahn.
Als er die Toilette wieder verließ, war es Mittag. In den Restaurants außerhalb der Zone saßen die Menschen und aßen. Er sah Teller mit Steaks und Pommes frites, Berge von Salat, Karaffen (manchmal auch Flaschen) voll Wein. Er ging Richtung Norden. Die Blasen an den Zehen schmerzten jetzt noch stärker. Auf dem Boulevard Diderot, den er überqueren musste, staute sich der Mittagsverkehr. Nahe beim Krankenhaus St. Antoine gab es eine Bäckerei, die über Mittag geöffnet hatte. Das war die letzte Station bei seinen
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