Der letzte Walzer in Paris - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
irgendetwas faul. Ich habe im Internet recherchiert. Dort gibt es eine Liste aller Opfer des Terroranschlags auf die Twin Towers. Unter den etwa dreitausend Toten ist definitiv keine Frau namens Augustine Géminard. Um genauer zu sein: niemand mit dem Vornamen ›Augustine‹, denn sie hätte ja verheiratet sein und von daher einen anderen Familiennamen tragen können. Außerdem habe ich das französische Konsulat in New York kontaktiert und mir dort die Liste der französischen Staatsbürger geben lassen, die bei dem Anschlag ums Leben kamen. Fehlanzeige.«
»Demnach hat Griseldis Geminard gelogen und diese Geschichte erfunden.« LaBréa lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. »Fragt sich nur, warum? Zweifelsfrei wurde Tochter Augustine 1954 in Paris geboren.«
»Alte Menschen erzählen oft Geschichten, um sich interessant zu machen«, meinte Franck.
LaBréa nickte.
»Ja, das kommt vor. Allerdings nicht nur bei alten Menschen. Leute, die sich etwas zurechtfantasieren, gibt es in allen Altersklassen und Bevölkerungsschichten. Ein schreckliches Ereignis, eine Naturkatastrophe, ein Unglück oder ein Terroranschlag, wie in diesem Fall, wird benutzt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder Mitleid zu erregen. Man behauptet, in direkter Weise von diesem Ereignis betroffen zu sein - zum Beispiel einen lieben Menschen verloren zu haben.«
»Wenn die Tochter nicht bei dem Terroranschlag ums Leben kam, wo ist sie dann?«, überlegte Franck. »Lebt sie überhaupt noch? Wenn ja, wo?«
»Der letzte Brief an ihre Mutter datiert vom April 2001«, bemerkte Jean-Marc.
»Geht aus den Briefen irgendetwas hervor, das uns weiterbringt?«
»Leider nicht, Chef. Da steht überhaupt nichts Interessantes drin. Sie schreibt nichts über ihren Beruf, und was Beziehungen oder Partner angeht, könnte man meinen, so etwas existierte überhaupt nicht für sie.«
»Und womit füllte sie dann die Seiten?«, fragt Claudine erstaunt.
»Sie schreibt übers Wetter, dass sie manchmal ans Meer fährt, dass sie in eine andere Wohnung gezogen
ist und so weiter. Belanglosigkeiten. Manchmal erwähnt sie namentlich einige Nachbarn und Bekannte und beschreibt sie ausführlich, während man von ihr persönlich rein gar nichts erfährt.«
»Schon eigenartig«, bemerkte LaBréa nachdenklich und wechselt das Thema. »Was sagen die Kollegen im Labor, Jean-Marc?«
»Auf einem der Seidenschals aus der Wohnung wurden neben der DNA des Opfers auch Hautpartikel mit einer fremden DNA gefunden. Wir nehmen an, dass die Frau mit diesem Schal erdrosselt wurde. Auf der Handtasche der Toten wurden fremde Fingerabdrücke sichergestellt, auch auf ihrem Portemonnaie. Sie sind identisch. Gilles hat alles in die Datenbank eingegeben. Nichts, kein Treffer.«
»Hat er es europaweit versucht?«, hakte LaBréa nach.
»Ja. Aber es gibt nirgendwo eine Übereinstimmung.« LaBréas Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Er stand auf und nahm den Hörer ab. Es war Brigitte Foucart, die das Resultat der Autopsie durchgab. LaBrea schaltete auf »Mithören«, damit auch seine Mitarbeiter den Ausführungen der Gerichtsmedizinerin lauschen konnten.
»Mit meiner Einschätzung des Todeszeitpunkts habe ich richtig gelegen, Maurice. Ihre letzte Mahlzeit hat sie heute Morgen etwa gegen halb sieben eingenommen. Ein Croissant mit Butter und Orangenmarmelade sowie schwarzen Kaffee. Berücksichtigt man dazu
noch die Entwicklung der Totenstarre und ihre Körpertemperatur, so ist der Tod zwischen acht und neun Uhr eingetreten. Wie bereits vermutet, wurde sie erdrosselt. Kein ungewöhnlicher toxikologischer Befund, keine weiteren Verletzungen. Und die Frau wurde nicht vergewaltigt. Es gab weder Spermaspuren noch Spuren von Gewalteinwirkung im Vaginalbereich. Abgesehen von einigen harmlosen Zysten an der Blase war sie im Übrigen in einem sehr guten gesundheitlichen Zustand. Sie muss fit und agil gewesen sein. Erstaunlich für ihr Alter!«
»Danke, Brigitte.« LaBréa legte auf und ging zum Konferenztisch zurück. Hinter seinem Stuhl blieb er stehen und stützte die Hände auf die Lehne.
»Was haben wir bisher? Griseldis Geminard war eine rüstige Endsiebzigerin aus großbürgerlicher Familie. Sie hat öfter laut Musettewalzer gehört und eine Geschichte vom angeblichen Tod ihrer Tochter beim Terroranschlag in New York erzählt, die erlogen war. Heute Morgen zwischen acht und neun wurde sie in ihrer Wohnung erdrosselt. Es sieht alles nach einem Raubmord aus.
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