Der letzte Werwolf
mir jenen Morgen wieder, es ist, als wär es gestern erst geschehen. Der Frau Mama, der Liebsten, die Tränen flossen, als ich aus tiefem Traum erwachte und Aufruhr herrschte rings um mich. Man band mir das Amulett um und wies mich an, mich aller Fleischesspeise zu enthalten, damit die Lust am Blute nicht geweckt werde. Doch konnt ich nicht erkennen, um welcher Ursache willen.“
Valentina blickte bestürzt auf das Symbol, das sie auf so geheimnisvolle Weise zusammengeführt hatte. „Dieser Orden“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Weißt du, was es damit auf sich hat?“
Der Junge senkte den Kopf und schloss die Augen wie jemand, der versucht, längst entschwundene Bilder zurückzuholen. Schließlich sah er hoch und schüttelte den Kopf. „Indes, den Liliendolch seh ich vor mir, ein Silberdolch von einer halben Elle, aufs Zierlichste geschmückt mit dem gewissen Zeichen …“ Etwas ließ ihn innehalten, ein schwerer Schatten überzog sein Gesicht. „Ein grausiger Affekt überfällt mich jählings.“ Er presste die Hände auf den Magen. „Doch will sich kein rechtes Bild formen. Indes – es nimmt kein gutes Ende …“
Seine bebenden Finger blätterten um.
„Der liebe Tochtersohn gedieh und wuchs zu einem Jüngling, des Violinenspiel dem glich, was Orpheus mit der Leier einst vollbrachte. Des Klosters Mauern wurden itzt zu eng, weil eines Meisters Unterricht Not tat. So ward beschlossen, er solle in Neapel bei Maestro Fiorenza Vollkommenheit erreichen. Alle Kasten waren schon gepackt, der Junker war voll reiner Freude. Die Reise sollte am Johannistage beginnen. Indes, die Nacht zuvor stand wiederum der volle Mond am Firmament. Und seinem bitteren Erbe folgend, lag er als Wandeltier in seinem Bette.“
Dorians Lesefluss verlangsamte sich, die Schrift schien Valentina zittrig und unregelmäßig geworden zu sein.
„Was als Tragoedia hat begonnen, kann keinen guten Ausgang finden. In jener Nacht drang das Böse in die geweihten Mauern.
Als Mitternacht die Glocken tönten, sprang ein wilder Wolf durchs Fenster stracks auf die Ruhestätte zu, in der, vom Mondenrausch verwandelt, ein weißer Wolf ruhte. Das Zeichen aber, das er an seinem Leibe trug, ließ die Bestie mit Geheule weichen, sodass des Knaben liebende Mutter voller Schrecken in die Kammer eilte, um dort nach dem Rechten zu sehen …“
Dorian sprach leise, kaum noch hörbar, seine Stimmbänder zitterten wie Spinnfäden im Wind. Dann verstummte er, während seine schreckgeweiteten Augen weiter über die Zeilen jagten. Am Ende der Seite angelangt, stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen.
Valentina fühlte, wie sich ein eisernes Band um ihre Brust spannte und sich enger und enger zog. Die Traumbilder der Nacht schossen in ihr Bewusstsein. Sie atmete in dem gleichen stoßartigen Rhythmus wie der Junge neben ihr, so, als griffe sein Schrecken mit eiskalten Fingern auch nach ihrem Herzen.
Phil wischte die feuchten Hände an der Hose ab und zog das Buch näher zu sich. Irgendetwas Furchtbares musste jetzt kommen, etwas, an das sich Dorian anscheinend plötzlich erinnerte. Er versuchte weiterzulesen, aber das war aussichtslos. Verdammt, kein Mensch konnte diese Hieroglyphen heute noch lesen! Enttäuscht schob er das Buch wieder zurück. Als es Dorians Ellenbogen streifte, schreckte dieser hoch.
Phil blickte ihn in einer Mischung aus Mitgefühl und ungeduldiger Spannung an.
„Ich weiß nun wieder, was in jener unglückseligen Nacht geschah“, sagte Dorian mit einer Stimme, die aus einer Gruft zu kommen schien. „Ich fand mich in der Wolfsgestalt und über mir ein ganz abscheuliches Getier, groß wie ein Kalb, doch räudig und mit roten Augen, ein Werwolf, der nach meinem Blute gierte. Indes die Bestie wich zurück, als sie das Amulett erblickte, und machte ein gewaltiges Geheul, dass höchst besorgt die Frau Mama stürzte herein.“
Wieder brach Dorian ab, er blickte ins Leere und sagte dann tonlos: „Es war ein schlimmer Traum, so dachte ich – indes …“
Phils Magen ballte sich in einer finsteren Ahnung zusammen. „Deine Mutter … der Werwolf …?“, sagte er leise, wagte seinen schrecklichen Verdacht aber nicht auszusprechen.
Dorian sah ihn abwesend an. „Die liebste Frau Mama …“ Ein Schluchzen nahm ihm die Stimme. Er presste für einen Moment die Lippen zusammen und fuhr dann fort. „Es war kein Traum, wie ich einst wähnte, es muss wohl wahr gewesen sein. – Das Bild des
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