Der letzte Werwolf
Eigentlich darf ich es nicht aus der Hand geben.“
„Das weiß ich“, sagte Phil. „Aber wir sind ganz bestimmt vorsichtig!“
Ehe Arnold den kleinen Band zu den anderen Büchern legte, sagte er hörbar unwillig: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr mit der alten Schrift zurechtkommen werdet.“
Dorian, der bisher geschwiegen hatte, streckte die Hand aus. „Verzeiht, werter Monsieur, ich bitte um die Erlaubnis, einen kleinen Blick in das Journal zu tun.“
Zögernd reichte ihm Arnold das Gewünschte. Nachdem Dorians helle Augen über die ersten Zeilen geflogen waren, legte sich ein Schatten über sein Gesicht. „Die Handschrift ist mir wohl vertraut“, sagte er leise.
Phil warf seiner Schwester einen triumphierenden Blick zu.
Die Miene des Archivars ließ keinen Zweifel, dass ihm der Junge mit dem Zopf mehr als suspekt war. Mit einem resignierten Achselzucken wies er seine Besucher in den Lesesaal. „Aber seid mir bloß vorsichtig beim Umblättern! Ihr wisst ja …“
Valentina schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Klar, Herr Arnold, wissen wir.“
K APITEL 6
I mmer wieder ein Erlebnis hierherzukommen.“ Valentina atmete den vertrauten Geruch von Bücherstaub tief ein, als sie den ehrwürdigen Lesesaal betraten.
Phil nickte. Auch er liebte diesen Raum, auf dessen alten Eichenbohlen sie früher oft gespielt hatten, wenn der Kindergarten Ferien hatte, Isolde unterwegs war und keiner der Eltern sich freinehmen konnte, sodass ihr Vater gezwungen war, sie mit hierherzunehmen.
Dorians Blick wanderte über die dunklen Bücherschränke, die bis zur Stuckdecke reichten. Hier im Lesesaal standen vor allem Nachschlagewerke. Griffbereit die moderne Präsenzbibliothek, die den Benutzern jederzeit zur Verfugung stand, weiter oben in endlosen Reihen, doch in Sicherheit vor ungeschickten Händen, alte ledergebundene Bände uralter Enzyklopädien.
Dorians Blick blieb an einem Regal unterhalb der Decke hängen. „Das Zedlersche Lexikon …“ , sagte er gedehnt.
Valentina, die neben Phil bereits an einem der langen Holztische saß, sah hoch. „Du erinnerst dich? Was fällt dir noch dazu ein?“
Dorian schüttelte traurig den Kopf. „Verzeihen Sie …“
„Lass ihn!“, sagte Phil. „Mach keinen Druck! Vielleicht helfen ihm die Aufzeichnungen seiner Großmutter weiter.“
Dorian gesellte sich zu ihnen. Ehe er den kleinen Band aufschlug, tastete er über die Silberprägung, die unter seinen schlanken Fingern aufzuleuchten schien. „Ohn Zweifel, das selbige Zeichen“, murmelte er und schlug gedankenvoll den Deckel auf.
Ihre Blicke vereinigten sich auf der ersten Seite. Weder Phil noch Valentina konnten die verschnörkelte Handschrift entziffern, dennoch erkannten sie, dass dem Text ein lateinischer Absatz vorangestellt war, den Dorian nun vorlas:
„Non homo, sed lupus est, quem non dementia tangit, qui non alterius miseranda sorte movetur, qui negat auxilium socio praestare roganti. “ Er hielt inne.
„Kein Mensch, sondern ein Wolf …“ murmelte Valentina vor sich hin.
Dorian vervollständigte ihre Übersetzung fließend, er musste jahrelang Lateinunterricht gehabt haben: „Kein Mensch ist der, sondern ein Wolf, den kein Mitleid rührt, der nicht vom armseligen Los seines Nächsten erschüttert wird, der sich weigert, seinem flehenden Mitmenschen Hilfe zu leisten.“
Valentina blickte sinnend ins Leere, während Dorian schon fortfuhr:
„Die Verfasserin dieser Zeilen, Gräfin Margareta Luisa, in ihrem Herzeleide untröstliche Wittib Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht Ferdinand Albert von Treuenstein, legt hiermit Zeugnis ab von dem großen Unglücke, welches das uralte Geschlecht derer von Treuenstein in Verzweiflung und Tod geworfen hat.“
Dorian hielt einen Augenblick inne, er schluckte.
„Mann!“, sagte Phil, „was für eine umständliche Ausdrucksweise!“
„Psst!“ Valentina legte den Finger auf die Lippen und gab ihm zu verstehen, dass er Dorian jetzt nicht stören solle, doch der schien Phils Kommentar gar nicht wahrgenommen zu haben.
„Mögen Unsere qualvollen Erinnerungen jenen edlen Seelen zufallen, die vom Schicksale dazu ausersehen sind, das Unrecht zu vergelten, das Unserer einzigen geliebten Tochter so schmählich widerfahren ist, und welches dem Gemahle, dem teuren, das Herz in Stücke gerissen hat. Möge der Fluch über Unseren innigst geliebten Tochtersohn an einem glücklicheren Tage als diesem gelöst werden.“
Mit diesen Worten leitete Margareta
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