Der letzte Werwolf
Bändchen vor Dorian liegen sah, kam er näher und nahm es in die Hand. „Und das konntest du tatsächlich lesen?“
Dorian sah ihn abwesend an. „Wohlan, das war kein großes Kunststück, werter Herr.“
Arnold musterte ihn misstrauisch durch seine dicken Brillengläser. Dann blätterte er behutsam in den Seiten. „Zitate, Gedichte, Kräuterrezepturen … Über das Treuenstein-Gymnasium steht hier, soweit ich sehen kann, rein gar nichts.“
Seine Besucher sahen einander verblüfft an. Wie war das möglich?
Valentina erhob sich rasch. „Danke noch mal, Herr Arnold. War nett, dass Sie uns reingelassen haben.“ Damit gab sie den anderen ein Zeichen, ebenfalls aufzustehen, ehe der Kollege ihres Vaters weitere Fragen stellte, die sie schwerlich schlüssig beantworten konnten.
„Wow!“, sagte Phil, als sie das Archiv verlassen hatten. „Kapiert ihr das?“
Dorian nickte bedächtig. „Mich dünkt, das Büchlein war alleine Ihnen zugedacht, verehrte Freunde, nicht jedem sollt sein Inhalt sich erschließen.“ Seine Finger umfingen grübelnd das Amulett. „Indes, was trachtet mir ein Werwolf nach dem Leben? – Bin ich nicht schon genug gestraft mit meines armen Vaters unheilvollem Blute?“
Valentina entnahm Dorians Worten sein Hadern mit einem Schicksal, in das er unschuldig hineingeboren war. Die abscheuliche Bestie, die seine Eltern umgebracht hatte, hatte etwas mit diesem Schicksal zu tun. Das fühlte sie deutlich. Der kalte Hauch des Bösen ließ sie plötzlich zittern wie einen frierenden Vogel. „Ich hab Angst“, sagte sie leise.
Dorian griff wortlos nach ihrer Hand. Sie sah zu ihm hoch, und ihre Angst versank in einer warmen Woge, die sie nicht weniger verstörte.
K APITEL 7
H err Bozzi begrüßte seine Zweibeiner, als seien sie von den Toten auferstanden. Nach einem kleinen Mittagsimbiss meldete er ein dringendes Bedürfnis an, indem er winselnd zwischen Tisch und Tür hin- und herlief.
Valentina schob ihren Teller von sich weg. „Heute bist du dran, Phil!“
„Mann, ich wollte im Internet nachsehen, ob ich was über Werwölfe finde. Ich hab das verdammte Gefühl, dass wir dringend ein paar Infos brauchen.“
„Wenn Sie erlauben, hochverehrte Mademoiselle“, meldete sich Dorian zu Wort, „es wäre mir eine Freude, Sie zu begleiten. Bin ich doch nun à la mode gekleidet und sollte nicht zum Gaffen Anlass geben.“
Valentina lächelte verlegen.
„Super! Dann wäre das geklärt.“ Damit sprang Phil auf und war schon draußen, ehe seine Schwester noch protestieren konnte.
Sie gingen das erste Stück schweigend. Anders als sonst zerrte Herr Bozzi heute nicht an der Leine, sondern trottete gesittet neben ihnen her, obwohl er wusste, dass Valentina sein geliebtes Bällchen mitgenommen hatte, was gewöhnlich dazu führte, dass er fordernd an ihr hochsprang.
„Verzeihen Sie Ihrem Diener, dass er gar so wenig amüsabel ist“, sagte Dorian, „allzu schwere Gedanken gehen durch seinen Sinn.“
Vor ihnen tat sich das Palais auf, mit seinem honiggelben Putz und dem verschwenderischen Rocailles-Schmuck aus weißem Stuck, der aussah wie das Zuckergussdekor eines übermütigen Konditors.
Der Junge blieb stehen. In den hohen Fenstern blitzte die Sonne wie zu einem Begrüßungsfeuerwerk. Auf einem der beiden Steinlöwen vor dem Hauptportal posierte ein kleines Mädchen für ein Foto.
„Die Stätte meiner Kindheit“, sagte Dorian bewegt. „Die Erinnerungen kehren gleich verirrten Vögeln zu mir zurück.“
Während sie sich dem Gebäude langsam näherten, schien Dorian wie ein Schwamm jedes Detail aufzusaugen. „Der Brunnen! – Wie er mein Herz erfreute an heißen Sommertagen! Wenn keiner achtgab auf den kleinen Knaben, delektierte er sich mit Plaisir unter der Fontaine. – Die Schelte der Mama schreckte ihn gar nicht …“ Ein Schmunzeln erhellte sein schmales Gesicht, das aber sogleich erlosch, als er nach rechts sah. „Der Marstall stand an jener Stelle, er wich wohl diesen Blumenbeeten.“ Sinnierend starrte er auf die farbenprächtige Bepflanzung. „Mein lieber Vater war ein tüchtiger Reitersmann, und war auch mir ein Pferdchen ganz allein zu eigen, von weißem Fell und heiterem Gemüte, sein Name war Snigúratschka.“
„Ein ungewöhnlicher Name für ein Pferd“, bemerkte Valentina.
„Verzeihen Sie, verehrte Mademoiselle, doch Snigúratschka ist russischer Abkunft und heißt, so man es übertragen wollte, Schneeflöckchen. Mein guter Vater kam doch aus dem
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