Der letzte Werwolf
Zarenlande.“
Ohne Eile umrundeten sie das Schloss, dessen Rückseite man vor einigen Jahren mit einem Anbau erweitert hatte.
Glas, Beton, Stahl.
Dorian stoppte. Das blanke Entsetzen sprach aus seinen Augen. „Jener missratene Appendix findet mein Gefallen durchaus nicht!“ Er schüttelte den Kopf so heftig, dass sein Zopf flog. „Ein wahrhaft scheußlich' Ding! Es stört die Harmonie der Symmetrie und ist auch sonst nicht sehr gelungen.“
Valentina überkam das unsinnige Gefühl, als wäre sie persönlich für die Veränderung, die Dorian so aufbrachte, verantwortlich. „Die Schule musste erweitert werden“, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. „Das Amalia-von-Treuenstein-Gymnasium ist bis heute sehr renommiert.“
Ihre Erklärung schien Dorian etwas zu versöhnen. „Dass meiner lieben Frau Mama hochwohlgeborner Name sich eines guten Rufs erfreuet, erfüllet mich mit Stolz. So lebt sie in den Herzen fort und wirkt als Muse der Musik.“
Obwohl Dorian nur seine ersten Lebensjahre hier verbracht hatte, erinnerte er sich noch an vieles. Mit Enttäuschung vermerkte er, was sich in der Zwischenzeit alles verändert hatte. So war die Orangerie, in der seine Großmutter Orchideen und Tulpen züchten ließ, abgerissen worden und hatte einem zweckmäßigen Bau Platz gemacht, in dem heute die Schlossgärtnerei untergebracht war.
Überrascht blickte er in die gewaltigen Kronen der alten Laubbäume, als sie ihren Spaziergang Herrn Bozzi zuliebe in dem Teil des Parks fortsetzten, wo man ihn frei laufen lassen konnte. „Dem kleinen Knaben schienen sie schon groß, doch sind sie nun wahrhaft in den Himmel gewachsen.“
Um dem Vierbeiner Bewegung zu verschaffen, kam nun auch das Bällchen zum Einsatz. Verblüfft verfolgte Dorian, mit welcher Wucht seine zierliche Begleiterin das Spielzeug wegschleuderte.
„Bei allem Respekt, hochverehrte Mademoiselle“, sagte er dann. „Die Kunstfertigkeit des Wurfes verdient Admiration, indes scheint es mir wenig ziemlich für eine junge Dame, sich dieser Art zu exponieren.“
Valentina lachte. „Dorian, wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert. Frauen und Männer sind jetzt gleichberechtigt.“
„Im ein-und-zwanzigsten Jahrhundert“, wiederholte Dorian stockend, und Valentina ging auf, dass er sich das bisher anscheinend gar nicht richtig bewusst gemacht hatte. „Potztausend! So nimmt es denn nicht wunder, dass all Ihre Maschinen, auch Ihre Weise, sich zu kleiden, – und mit Verlaub – auch der Jargon und Ihre Sitten mir so gänzlich unvertraut erscheinen.“
Valentina nickte, während sie dem begeisterten Herrn Bozzi das Bällchen aus der Schnauze nahm. „Dann kannst du vielleicht verstehen, wie fremdartig dein Benehmen und deine Ausdrucksweise für uns sind.“ Unwillkürlich dachte sie daran, dass in ein paar Stunden Isolde heimkam. Was würde sie wohl von dem eigenartigen Gebaren ihres unerwarteten Gastes halten?
Als sie das Haus betraten, übte Phil Geige.
„Hast du im Internet schon was gefunden?“, erkundigte sich Valentina, als sie Herrn Bozzi das Halsband abnahm.
„Einiges“, sagte Phil und deutete mit dem Geigenstock auf einen kleinen Stapel Ausdrucke, die auf dem Flügel lagen. „Grusliges Zeug sag ich dir, nichts für zarte Gemüter!“
Valentina schnappte sich die Blätter und verzog sich damit ins Wohnzimmer, während Dorian in der Diele blieb, um Phil zuzuhören.
Sie setzte sich aufs Sofa und blätterte zweifelnd in den Ausdrucken. Eigentlich war sie überzeugt, dass es so etwas wie Werwölfe nicht wirklich gab, gar nicht geben konnte. Wie sollte aus einem Menschen auch ein Wolf werden? Zauberei? Solche Geschichten gehörten in die Rubrik Aberglaube. Dass die Menschen früher, als man sich viele Dinge noch nicht wissenschaftlich erklären konnte und die Natur für sie oft unberechenbar gewesen sein musste, an Magie glaubten, war ja verzeihlich. Aber heute? Im Zeitalter von Gentechnik und Internet? – Andererseits … Gerade heute hatte Fantasy Hochkonjunktur. – Trotzdem, jeder, der so etwas las, wusste doch glasklar, dass Vampir- und Werwolfgeschichten Gruselmärchen waren, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun hatten.
Mit diesen wohlvertrauten Gedanken nahm sie sich Phils Recherche vor.
Aber schon nach der ersten Seite kroch auf schwarzen Spinnenbeinen ein beklemmendes Gefühl in ihr hoch. Zweifel an der eigenen Skepsis unterwanderten ihre Gedanken. – Und wenn doch etwas dran war an den alten Geschichten, an
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