Der letzte Werwolf
Grauens steht vor mir, die Gnade des Vergessens ist verweht. Ich sah das rasend Vieh ihr an den Kragen springen, ehe ich noch aus dem Bette fand. Ihr warmes Blut färbte die Kammer rot. Mit letzter Kraft gelangte sie an den Silberdolch und stieß dem Wolf damit ins Fleisch. Ihr Stoß schlug ihm eine Wunde, doch traf sie nicht den Lebensnerv und er entkam mit teuflischem Geheule stracks aus dem Fenster. Indes, die liebste Frau Mama …“ Tränen liefen ihm über die Wangen, er schluckte, um weitersprechen zu können. „Indes, die liebste Frau Mama ward zum Opfer dieser Teufelsbestie. Ich Elender, sie starb an meiner statt!“
Er schwieg. Eine schwarze Wolke dunkler Gedanken füllte den Raum. Schließlich wischte sich Dorian mit einer heftigen Bewegung übers Gesicht und wandte sich, all seine Fassung zusammennehmend, wieder dem Tagebuch seiner Großmutter zu, um die Passage vorzulesen, die er seinen Zuhörern eben vorenthalten hatte.
Margareta von Treuenstein bezog sich auf den Bericht einer Vertrauten Amalias und deckte sich im Großen und Ganzen mit dem, woran Dorian sich erinnerte, ging aber noch darüber hinaus.
„In ihrer Todesstunde bekundete Unser liebstes Töchterlein den letzten Wunsch, dass doch der Orden den Fluch von ihrem Kinde nähme, damit sich das üble Blut durch ihn nicht weiter pflanze fort. Dann schied sie hin. Noch in derselben Nacht ward in einem heiligen Rituale die Göttin um ihren Schirm und Schutz angefleht, die Königin der dunklen Nacht, die Herrscherin über den Mond und die Gestirne. Alsdann erteilte man dem weißen Wolfe einen Trank, der ihn zu Stein erstarren ließ, auf dass kein Werwolf und kein Mensch ihm Böses antun könne, bis sich in ferner Zeit zwei Glückskinder fänden, die ihn mit ihrer hellen Kraft zum Ziele brächten, den Kampf auf immer zu gewinnen.“
„Das sind wir!“, platzte Phil heraus.
Valentina war bleich wie ein Leintuch geworden. Phil hatte recht, sie waren Glückskinder, unzählige Male hatte Isolde das über sie gesagt. Aber in was, um Himmels willen, wurden sie da hineingezogen? Betroffen blickte sie auf die alte Handschrift und kam sich auf einmal vor, als würde eine fremde Macht über sie bestimmen. War ihr Schicksal seit mehr als zweihundert Jahren mit Dorians Schicksal verbunden? War es das, was sie so seltsam zu ihm hinzog? In diesen aufwühlenden Gedanken drang nun wieder Dorians Stimme.
„Die Kunde von dem Tode der geliebten Tochter brach dem getreuen Vater das Herz. Weil Unsere geliebte Tochter aber Buhlin eines Menschenwolfes gewesen sei, versagten Uns die Kirchenherren, das arme Kind an dem geweihtem Orte seiner Ahnen zu bestatten.
Vor lauter Kummer starb schon nach kurzer Weile auch Unser treu geliebter gräflicher Gemahl. Seine trauernde Wittib ließ der lieben toten Tochter einen Tempel errichten, welcher Diana ward geweiht. Der steinerne Hund, der Unser Tochtersohn doch ist, ruht an jenem Orte, bis dereinst die rechte Zeit anbricht, zu handeln und zu kämpfen.“
Valentina stockte der Atem, das waren exakt die Worte, die sie auf dem Sarkophag gelesen hatten.
„So legen Wir die Dinge in der Göttin Hand. Erleichtert um die schwere Bürde dieses Vermächtnisses endigen Wir hiermit und segnen jene, die das Schicksal dereinst auserwählen wird, diese Zeilen zu lesen.
Dieses schrieb mit ihrer eigenen Hand, nach bestem Wissen und Gewissen, Margareta Luisa von Treuenstein, untertänigste Wittib Seiner Hochfürstlichen Hochwohlgeborenen Durchlaucht Ferdinand Albert von Treuenstein.“
Dorian richtete sich auf, schleppend wie ein alter Mann, und lehnte sich schweigend zurück. Valentina starrte auf die letzten Zeilen, aus deren zittrigem Schriftbild sie schloss, dass die Hand, die sie verfasst hatten, kraftlos geworden war. Die alte Gräfin musste sie unmittelbar vor ihrem Tod verfasst haben.
„Na, wie sieht es bei euch aus?“ Arnolds Stimme riss die drei unvermittelt in die Wirklichkeit zurück. „Seid ihr zurechtgekommen? – Ich muss zum Mittagessen, Mutter mag es nicht, wenn ihr Sonntagsbraten verbrutzelt. Ich darf euch leider nicht allein hierlassen. Aber ihr könnt nach drei gern wiederkommen.“
„Danke Herr Arnold“, sagte Valentina. „Das ist nicht nötig. Wir sind schon fündig geworden. Es war nett von Ihnen, dass Sie für uns das Material zusammengesucht haben.“
Der Archivar, der noch in der Tür stand, blickte zu dem Bücherstapel auf dem Wagen, der fraglos unberührt geblieben war. Als er das handschriftliche
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