Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
Leben führen können.
Annie war wieder da. Nach dem Essen bei seinen Eltern hatte er den ganzen Abend an sie gedacht. Annie mit den langen blonden Haaren und den Sommersprossen auf Nase und Armen. Annie, die nach Meer und Sommer roch und deren Wärme er noch nach so vielen Jahren in seinen Armen spürte. Es stimmte, was immer behauptet wurde. Die erste Liebe vergaß man nie. Und die drei Sommer auf Gråskär konnte man nur als zauberhaft bezeichnen. Er hatte Annie besucht, so oft er konnte, und gemeinsam hatten sie die Insel in Besitz genommen.
Manchmal jedoch hatte sie ihm einen Schreck eingejagt. Ihr helles Lachen kippte jäh, und sie schien in einer Dunkelheit zu verschwinden, in der er sie nicht erreichen konnte. Für die Gefühle, die sie überkamen, konnte sie nie Worte finden, und mit der Zeit hatte er gelernt, sie in Ruhe zu lassen, wenn es passierte. Im letzten Sommer hatte sich die Dunkelheit immer öfter über sie gelegt, und sie war ihm allmählich entglitten. Als er ihr im August zum Abschied winkte und sie mit ihrem Gepäck in den Zug nach Stockholm stieg, wusste er, dass es vorbei war.
Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Im Jahr darauf starben kurz nacheinander ihre Eltern, und er hatte versucht, Annie anzurufen, hatte aber nur ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter gehört. Sie hatte nie zurückgerufen. Das Haus auf Gråskär stand leer. Er wusste, dass seine Mutter und sein Vater hin und wieder hinausfuhren und nach dem Rechten sahen und dass Annie ihnen manchmal Geld dafür überwies, aber sie selbst war nie zurückgekehrt. Allmählich waren die Erinnerungen verblasst.
Nun war Annie wieder da. Matte saß am Schreibtisch und starrte vor sich hin. Seine Bedenken hatten sich verschärft, und es gab Dinge, die er dringend angehen musste, aber Annie kam ihm ständig dazwischen. Als die Nachmittagssonne ins Rathaus von Tanum schien, schob er die Unterlagen auf seinem Tisch zusammen. Er musste Annie treffen. Zielstrebig verließ er sein Zimmer. Bevor er zum Auto ging, wechselte er noch ein paar Worte mit Erling. Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel ins Zündschloss.
»Du bist aber früh zu Hause, Liebling!«
Vivianne kam auf ihn zu und hauchte ihm ein kühles Küsschen auf die Wange. Er konnte es sich nicht verkneifen, sie in den Arm zu nehmen und fest an sich zu drücken.
»Ganz ruhig. Das sparen wir uns für später auf.« Sie presste ihre Hand gegen seinen Brustkorb.
»Bist du sicher? In letzter Zeit bin ich abends immer so müde.« Erneut zog er sie an sich, doch zu seiner großen Enttäuschung entglitt sie ihm noch einmal und ging zu seinem Arbeitszimmer.
»Du musst dich gedulden. Ich habe so viel zu tun, dass ich mich im Moment einfach nicht entspannen könnte. Und du weißt ja, wie es ist, wenn ich nicht entspannt bin.«
»Ja, schon.«
Erling blickte missmutig hinter ihr her. Natürlich konnten sie noch warten, aber er schlief nun bereits seit über einer Woche auf dem Sofa ein. Jeden Morgen wachte er mit dem Kopf auf einem Sofakissen und unter einer Wolldecke, die Vivianne zärtlich über ihn gebreitet hatte, im Wohnzimmer auf. Er verstand das einfach nicht. Es musste daran liegen, dass er so überarbeitet war. Langsam sollte er wirklich lernen zu delegieren.
»Ich habe uns jedenfalls etwas Gutes mitgebracht«, rief er.
»Wie süß von dir. Was ist es denn?«
»Garnelen von den Brüdern Olsson und eine schöne Flasche Chablis.«
»Köstlich. Ich bin gegen acht Uhr so weit. Es wäre super, wenn das Essen bis dahin fertig ist.«
»Natürlich, Liebling«, murmelte Erling.
Er griff nach den Einkaufstüten und schleppte sie in die Küche. Das war etwas ungewohnt, musste er zugeben. Als er noch mit Viveca verheiratet war, hatte sie den ganzen Haushalt geschmissen, aber seit Vivianne bei ihm wohnte, waren die häuslichen Pflichten seltsamerweise auf ihn übergegangen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dazu gekommen war.
Seufzend räumte er die Lebensmittel in den Kühlschrank, doch als er an die Ereignisse des kommenden Abends dachte, hellte sich seine Stimmung auf. Er würde schon dafür sorgen, dass sie sich entspannte. Dafür lohnte sich das bisschen Küchendienst.
Auf ihrem Spaziergang durch Fjällbacka kam Erica ganz schön ins Schnaufen. Die Zwillingsschwangerschaft und der Kaiserschnitt hatten weder ihrem Gewicht noch ihrer Kondition gutgetan. Aber solche Dinge erschienen ihr jetzt unheimlich banal. Ihre beiden Söhne waren gesund. Sie hatten
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