Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
überlebt. Die Dankbarkeit, die Erica jeden Morgen empfand, wenn die beiden um halb sieben anfingen zu schreien, war immer noch so überwältigend, dass sie feuchte Augen bekam.
Anna hatte es dafür umso härter getroffen, und Erica hatte zum ersten Mal keine Ahnung, wie sie mit ihrer Schwester umgehen sollte. Ihre Beziehung war nicht immer unkompliziert gewesen, aber Erica hatte sich seit ihrer Kindheit um Anna gekümmert, hatte gepustet, wenn Anna sich weh getan hatte, und ihre Tränen getrocknet. Diesmal war es anders. Anna hatte keine kleine Schürfwunde, sondern ein tiefes Loch in der Seele, und Erica hatte das Gefühl, hilflos zusehen zu müssen, wie Anna langsam ihre Lebenskraft verlor. Was konnte sie tun, damit Annas Wunden heilten? Annas Sohn war gestorben, und sosehr auch sie diesen Schmerz fühlte, konnte Erica doch nicht verhehlen, wie froh sie war, dass ihre eigenen Kinder noch am Leben waren. Nach dem Unfall hatte Anna ihre Schwester nicht einmal ansehen können. Erica hatte sie oft im Krankenhaus besucht und an ihrem Bett gesessen. Aber ihre Blicke hatten sich kein einziges Mal getroffen.
Seit Anna wieder zu Hause war, hatte Erica sich noch nicht dazu aufraffen können, sie zu besuchen. Sie hatte sich ein paar Mal telefonisch bei Dan gemeldet, der niedergeschlagen und ratlos klang. Nun ließ es sich nicht länger aufschieben. Sie hatte Kristina gebeten, vorbeizukommen und sich ein Weilchen um die Zwillinge und Maja zu kümmern. Anna war ihre Schwester. Erica konnte sich der Verantwortung nicht entziehen.
Kraftlos fiel ihre Hand auf die Klinke. Hinter der Tür hörte sie die Kinder herumtoben. Nach einer Weile machte Emma ihr auf.
»Tante Erica!«, rief sie erfreut. »Wo sind die Babys?«
»Die sind zu Hause bei Maja und ihrer Oma.« Erica strich Emma über die Wange. Sie hatte eine ungeheure Ähnlichkeit mit Anna als Kind.
»Mama ist traurig.« Emma blickte zu ihr hoch. »Sie schläft und schläft und schläft. Papa sagt, es liegt daran, dass sie traurig ist. Sie ist traurig, weil das Baby in ihrem Bauch lieber gleich in den Himmel wollte, anstatt hier unten bei uns zu wohnen. Ich kann das Baby verstehen, denn Adrian ist immer so frech, und Lisen ärgert mich die ganze Zeit. Ich wäre lieb zu dem Baby gewesen. Wirklich. Ganz, ganz lieb.«
»Das weiß ich, meine Süße, aber stell dir mal vor, wie viel Spaß das Baby jetzt da oben hat, wenn es zwischen den Wolken herumhüpft.«
»Ist das wie auf tausend Trampolins?«
»Sicher. Wie auf tausend Trampolins.«
»Das wünsche ich mir auch«, sagte Emma. »Wir haben nur ein Minitrampolin im Garten, und darauf kann nur einer hüpfen. Lisen will immer die Erste sein, und ich komme nie an die Reihe.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und trottete ins Wohnzimmer.
Erst jetzt wurde Erica bewusst, was Emma gesagt hatte. Papa hatte sie Dan genannt. Erica lächelte. Eigentlich wunderte es sie nicht, denn Dan liebte Annas Kinder, und seine Gefühle waren von Anfang an erwidert worden. Das gemeinsame Kind hätte die Familie noch fester zusammengeschweißt. Erica schluckte und folgte Emma ins Wohnzimmer. Hier sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
»Entschuldige bitte das Chaos«, sagte Dan verlegen. »Irgendwie komme ich nicht nach. Vierundzwanzig Stunden pro Tag sind einfach zu wenig, habe ich das Gefühl.«
»Ich weiß genau, was du meinst. Du solltest mal sehen, wie es bei uns aussieht.« Erica blieb in der Tür stehen und warf einen verstohlenen Blick Richtung Obergeschoss. »Kann ich raufgehen?«
»Ja, tu das.« Dan rieb sich das Gesicht. Er sah unendlich müde und traurig aus.
»Ich will mit«, sagte Emma, doch Dan hockte sich neben sie, redete beruhigend auf sie ein und überzeugte sie schließlich davon, dass es besser war, Erica allein nach oben zu Mama gehen zu lassen.
Das Schlafzimmer von Dan und Anna lag gleich rechts. Erica wollte anklopfen, hielt aber, kurz bevor ihr Knöchel die Tür berührt hatte, inne und schob sie einfach auf. Anna hatte sich zum Fenster gedreht. Unter dem zarten Flaum leuchtete ihre Kopfhaut in der Spätnachmittagsonne. Ericas Herz krampfte sich zusammen. Sie war immer eher eine Mutter als eine Schwester für Anna gewesen, aber in den letzten Jahren hatte sich zwischen ihnen etwas entwickelt, was mehr Ähnlichkeit mit dem Verhältnis von Geschwistern hatte. Nun fanden sie sich mit einem Schlag in den alten Rollen wieder. Anna war klein und verletzlich, Erica machte sich Sorgen.
Anna atmete tief und
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