Der Leuchtturmwärter: Kriminalroman (German Edition)
auf den Anleger zu.
»Darf ich dich einfach so überfallen?«
Die Stimme klang vertraut und doch verändert. Man konnte hören, dass er seit ihrer letzten Begegnung einiges erlebt hatte. Im ersten Augenblick wollte sie schreien: Nein, komm nicht an Land! Du hast hier nichts mehr zu suchen. Stattdessen fing sie den Tampen auf, den er ihr zuwarf, und vertäute das Boot geübt mit einem Webeleinenstek. Dann stand er auf dem Steg. Annie hatte vergessen, wie groß er war. Selbst sie, die so groß wie die meisten Männer war, konnte den Kopf an seine Brust lehnen. Fredrik hatte sich darüber geärgert, dass sie ihn um einige Zentimeter überragte. Daher hatte sie nie Schuhe mit Absatz tragen dürfen, wenn sie zusammen ausgingen.
Jetzt nicht an Fredrik denken. Nicht daran denken …
Auf einmal schloss Matte sie in die Arme. Sie wusste nicht, wie es dazu gekommen war und wer von ihnen den letzten Schritt, den Schritt auf den anderen zu, gemacht hatte. Plötzlich war es einfach so. Der grobe Strick seines Pullovers kratzte an ihrer Haut. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Sie atmete den vertrauten Geruch ein, den sie schon seit so vielen Jahren nicht mehr in der Nase gehabt hatte. Mattes Geruch.
»Hey du.« Er drückte sie noch fester, als müsste er verhindern, dass sie hinfiel. Und genauso war es. Sie wollte für immer in seinen Armen bleiben, wollte all das spüren, was ihr vor langer Zeit gehört hatte, doch dann in einem Durcheinander aus Dunkelheit und Verzweiflung verschwunden war. Schließlich ließ er sie aber los, hielt sie ein Stück von sich entfernt und musterte eingehend ihr Gesicht, als sähe er es zum ersten Mal.
»Du hast dich kaum verändert«, sagte er. Annie merkte ihm an, dass das nicht stimmte. Sie war eine andere. Das sah man in ihrem Gesicht, in den Linien, die in die Haut um Augen und Mund geritzt waren, und sie wusste, dass es ihm auch auffiel. Sie liebte ihn dafür, dass er trotzdem den Anschein wahrte. Es war immer seine Stärke gewesen, so zu tun, als würde das Böse verschwinden, wenn man nur fest genug die Augen zumachte.
»Komm.« Sie hielt ihm ihre Hand hin. Er griff danach, und sie gingen gemeinsam hinauf zum Haus.
»Die Insel sieht aus wie immer.« Der Wind trug seine Stimme über die Felsklippen.
»Hier hat sich nichts verändert.« Sie wollte noch mehr sagen, aber Matte trat ein. Im Türrahmen musste er sich bücken und dann war der Moment vorbei, wie immer mit Matte. Sie erinnerte sich an die Worte, die sie mit sich herumgetragen und ihm hatte sagen wollen. Stattdessen waren sie in ihr geblieben und hatten sie stumm gemacht. Und er war traurig geworden, das wusste sie. Traurig, weil sie ihn nicht an sich heranließ, wenn die Dunkelheit kam.
Auch jetzt konnte sie das nicht, aber sie konnte mit ihm hier in dem Haus sitzen. Zumindest eine Weile. Sie brauchte das, brauchte seine Wärme. Sie hatte so lange gefroren.
»Möchtest du einen Tee?« Sie stellte einen Kessel auf den Herd, ohne seine Antwort abzuwarten. Sie musste sich irgendwie beschäftigen, damit er ihr Zittern nicht bemerkte.
»Danke, gern. Wo hast du denn den Kleinen? Wie alt ist er überhaupt?«
Sie sah ihn fragend an.
»Meine Eltern haben mich auf den neuesten Stand gebracht«, sagte er lächelnd.
»Fünf. Er schläft schon.«
»Ah ja.« Er schien enttäuscht, und davon wurde ihr warm ums Herz. Es bedeutete ihr etwas. Oft hatte sie sich gefragt, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie Sam nicht mit Fredrik, sondern mit Matte bekommen hätte. Aber dann wäre er nicht Sam gewesen, sondern ein vollkommen anderes Kind. Und das war nicht vorstellbar.
Sie war froh, dass Sam schlief, denn sie wollte nicht, dass Matte ihn jetzt sah. Doch sobald es Sam besserging, sollte Matte ihren kleinen Jungen kennenlernen, dessen Augen immer so schelmisch blitzten. Wenn er erst wieder Unfug machte, konnten sie sich zu dritt treffen. Sie freute sich schon darauf.
Eine Zeitlang saßen sie schweigend da und nippten bloß an dem heißen Tee. Es war ein seltsames Gefühl, sich wie Fremde gegenüberzusitzen. Wie hatte es nur dazu kommen können? Dann fingen sie an zu reden. Es war ungewohnt, denn sie waren ja nicht mehr dieselben wie damals. Allmählich fanden sie den Rhythmus und den Tonfall wieder, der zu ihnen gehört hatte, und konnten den Abstand überwinden, der mit den Jahren zwischen ihnen entstanden war.
Als sie ihn an der Hand nahm und ins Obergeschoss führte, schien alles zu stimmen. Danach schlief sie in seinen Armen
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