Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)
erklommen langsam die Wendeltreppe zu unserer Wohnung unter dem Feuer. Seit seinem Bau hatte sich am Leuchtturm nichts geändert. Jedes Zimmer war mit Kerzenhaltern und Josiah Darks Bibeln ausgestattet. Ich bekam ein winziges Zimmer mit winzigem Fenster und einem Bett von der Größe einer Schublade. Da ich nicht viel länger war als meine Socken, spielte das keine Rolle. HundJim würde schlafen müssen, wo es gerade ging.
Über mir lag die Küche, wo Pew auf einem offenen gusseisernen Ofen Würstchen briet. Über der Küche war das Feuer selbst – ein gewaltiges gläsernes Auge mit starrem Zyklopenblick.
Unser Geschäft war das Licht, dabei lebten wir in der Dunkelheit.Das Leuchtfeuer musste in Gang gehalten werden, doch es bestand keine Notwendigkeit, auch den Rest zu erhellen. Dunkelheit war immer zugegen. Sie war Standard. Meine Kleidung hatte dunklen Besatz. Wenn ich einen Südwester anzog, warf der Schirm einen dunklen Schatten auf mein Gesicht. Wenn ich zum Waschen in der kleinen Zinkkabine stand, die mir Pew gebaut hatte, seifte ich mich mit Dunkelheit ein. Griff man in eine Schublade, war Dunkelheit das Erste, was man spürte, während man nach einem Löffel wühlte. Ging man an den Küchenschrank, um die Teedose mit Full Strength Samson zu holen, war die Leere darin so schwarz wie der Tee selbst.
Die Dunkelheit musste erst weggefegt oder zur Seite geschoben werden, ehe wir uns setzen konnten. Die Dunkelheit hockte auf den Stühlen und hing wie ein Vorhang über der Treppe. Manchmal nahm sie die Gestalt der Gegenstände an, die wir benutzten: einer Pfanne, eines Bettes, eines Buches. Manchmal sah ich, wie mir meine Mutter, dunkel und schweigend, in die Arme fiel.
Die Dunkelheit war immer da. Ich lernte, in ihr zu sehen, ich lernte, durch sie hindurchzusehen, und ich lernte, meine eigene Dunkelheit zu erkennen.
Pew redete nicht. Ich wusste nicht, ob er freundlich oder unfreundlich war, oder was er mit mir zu tun gedachte. Er hatte sein ganzes Leben allein gelebt.
In jener ersten Nacht briet Pew die Würstchen in der Dunkelheit. Nein, Pew briet die Würstchen
in
Dunkelheit. Es war eine Dunkelheit, die man schmeckt. Das war es, was wir aßen: Würstchen mit Dunkelheit.
Ich fror und war müde und hatte Nackenschmerzen. Ich wollte nur noch schlafen und nie wieder aufwachen. Die wenigen Dinge, die ich kannte, hatte ich verloren, und hier gehörte alles einem anderen. Vielleicht wäre es in Ordnung gewesen,wenn das, was in mir war, mein Eigentum gewesen wäre, aber ich konnte nirgends vor Anker gehen.
Es gab zwei Atlantische Ozeane; einen draußen vor dem Leuchtturm und einen in mir.
In meinem Atlantik brannten keine Leuchtfeuer.
Eine anständige Geschichte hat Anfang, Mitte und Schluss. Mit diesem Modell habe ich jedoch meine Schwierigkeiten.
Zunächst könnte ich mir mein Geburtsjahr aussuchen – 1959. Oder ich könnte mir das Entstehungsjahr des Leuchtturms von Cape Wrath aussuchen und das Geburtsjahr von Babel Dark – 1828. Dann war da noch das Jahr, in dem Josiah Dark zum ersten Mal nach Salts kam – 1802. Oder das Jahr, in dem Josiah Dark Feuerwaffen nach Lundy Island schaffte – 1789.
Und was ist mit dem Jahr, als ich in den Leuchtturm zog – 1969, das Jahr, als Apollo auf dem Mond landete?
Das Datum ist mir sehr sympathisch, denn ich erlebte eine eigene Art Mondlandung auf diesem fremden, öden Fels, der nachts leuchtet.
Ein Mann fährt zum Mond. Ein Baby kommt zur Welt. Jedes Baby setzt hier zum ersten Mal seine Flagge.
Hier ist also meine Flagge – 1959, der Tag, an dem mich die Schwerkraft aus dem Mutterschiff sog. Meine Mutter lag seit acht Stunden in den Wehen, Beine in die Luft gespreizt wie eine Skifahrerin durch die Zeit. Ich war durch die gleichförmigen Monate getrieben, mit trägen Drehungen in meiner schwerelosen Welt. Es war das Licht, das mich weckte; ein Licht, ganz anders als das vertraute weiche Silber und nächtliche Rot. Das Licht rief mich hinaus – in meiner Erinnerungist es ein Schrei, obwohl du sagen würdest, der Schrei sei mein eigener gewesen, und vielleicht war es auch so, denn ein Baby kennt keine Trennung zwischen sich und dem Leben. Das Licht
war
das Leben. Und was das Licht den Pflanzen und Flüssen und Tieren und Jahreszeiten und der rotierenden Erde war, war es auch mir.
Als wir meine Mutter begruben, entwich ein Teil des Lichts aus mir, und es schien angemessen, dass ich an einem Ort leben sollte, wo alles Licht nach außen schien und wir davon
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