Der Leuchtturmwärter: Roman (German Edition)

Wrath hat es immer einen Pew gegeben. Aber nicht denselben Pew, oder doch?
    Wir redeten die ganze Nacht, als wären wir nie fort gewesen, als ob jener zerbrochene Tag an den Scharnieren dieses Tages aufgehängt worden wäre, und die beiden legten sich Rücken an Rücken aneinander, Pew und Silver, damals und jetzt. »Erzähl mir eine Geschichte«, sagte Pew.
    »Ein Buch, ein Vogel, eine Insel, eine Hütte, ein kleines Bett, ein Dachs, ein Anfang …«
    »Und hast du dieser Person auch gesagt, was ich dir mal gesagt habe?«, sagte Pew.
    »Wenn man jemanden liebt, soll man es ihm sagen.«
    »Das ist richtig, Kind.«
    »Ich hab getan, was du gesagt hast.«
    »Sehr gut, sehr gut.«
    »Ich liebe dich, Pew.«
    »Was sagst du da, Kind?«
    »Ich liebe dich.«
     
    Er lächelte, die Augen wie ein fernes Schiff. »Ich will dir auch eine Geschichte erzählen.«
    »Welche denn?«
    »Miss Pinch war in Wirklichkeit Waise.«
    »Miss Pinch!«
    »Sie war gar nicht mit Babel Dark verwandt. Das hat sie uns allen nie verziehen.«
    Und ich sah mich wieder in Railings Row unter dem Daunenbett aus ganzer Ente liegen, Entenfedern, Entenfüße, Entenschnabel, glasige Entenaugen und Entenbürzel, und auf den Tag warten.
    Selbst die Schlimmsten unter uns haben Glück, denn immer wieder kommt der Tag.
     
    Im Ofen brannte das Feuer allmählich herunter, und draußen herrschte eine seltsame Stille, als ob das Meer plötzlich vollkommen reglos wäre. Dann hörten wir Hundegebell.
    »Das ist HundJim«, sagte Pew. »Horch.«
    »Lebt er noch?«
    »Zumindest bellt er noch.«
    Pew stand auf. »Es wird bald Tag, Silver. Zeit zum Aufbruch.«
    »Wo gehst du hin?«
    Pew zuckte mit den Achseln. »Mal hierhin, mal dorthin, weder hierhin noch dahin, und je nach Saison woandershin.«
    »Werde ich dich wiedersehen?«
    »Am Cape Wrath hat es immer einen Pew gegeben.«
     
    Ich sah ihm zu, während er in sein Boot kletterte und die Pinne ausrichtete. HundJim saß aufrecht im Bug und wedelte mit dem Schwanz. Pew ruderte vom Felsen weg, und in dem Moment ging die Sonne auf und schien durch Pew und das Boot hindurch. Das Licht war so grell, dass ich die Augen mit der Hand beschirmen musste, und als ich wieder hinsah, waren Pew und das Boot verschwunden.
    Ich blieb im Leuchtturm, bis sich der Tag seinem Ende zuneigte. Als ich aufbrach, ging die Sonne unter und auf der anderen Seiten des Himmels ging der Vollmond auf. Ich streckte die Hände aus, nahm die untergehende Sonne in die eine Hand und den aufgehenden Mond in die andere, mein Silber und mein Gold, die Gabe, die mir das Leben geschenkt hatte.
    Die Gabe meines Lebens.
    Mein Leben ist ein Innehalten in der Zeit. Ein Felsspalt in einer Höhle. Eine Leerstelle als Wort.
     
    Dies waren meine Geschichten – Lichtblitze über die Zeit hinweg.
     
    Ich rufe deinen Namen, und wir zünden ein Feuer an und trinken einen Schluck Wein und erkennen einander, dort, wo unser Platz ist. Warte nicht. Erzähl die Geschichte nicht erst irgendwann.
    Das Leben ist so kurz. Dieses Stück Meer und Sand, dieser Spaziergang am Strand, ehe die Flut kommt und alles, was wir getan haben, unter sich begräbt.
    Ich liebe dich.
    Die drei schwierigsten Wörter der Welt.
    Aber was kann ich anderes sagen?

 
     
     
    Über die Autorin:
     
    Jeanette Winterson
wurde 1954 in Lancashire geboren. Für ihren ersten Roman
Orangen sind nicht die einzige Frucht
erhielt sie 1985 den
Whitbread Award
; ihr Roman
Verlangen
wurde mit dem
John-Llewellyn-Rhys-Preis
,
Das Geschlecht der Kirschen
mit dem
E. M. Foster Award
der American Academy for Arts and Letters ausgezeichnet. Sie lebt als freie Schriftstellerin in London.

 
     
     
    Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel
Lighthousekeeping

bei Fourth Estate, an imprint of HarperCollinsPublishers, London
© 2004 Jeanette Winterson
Für die deutsche Ausgabe © 2006 Berlin Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg
unter Verwendung des Designs der amerikanischen Ausgabe
von © Vaughn Andrews und einer Fotografie
von © Onne van der Wal/Corbis
    Erscheinungstermin dieser eBook-Ausgabe: 2010
    ISBN 978-3-8270-7303-7
     
     
     
    www.berlinverlage.de
www.greifswalder207.de