Der Liebe eine Stimme geben
Mittagessen.«
»Gern geschehen.« Petra erwidert ihre Umarmung. »Es war so gut, dich zu sehen.«
»Dich auch.« Beth stürzt zur Tür, will sich nicht verspäten.
»Du wirst es herausfinden«, sagt Petra, aber Beth ist schon zur Tür hinaus und kann sie nicht mehr hören.
Es ist Dienstagabend, die Thanksgiving-Woche. Beth und die Mädchen haben eben Makkaroni mit Käse zu Abend gegessen, aber Beth fühlt sich überhaupt nicht satt. Petras Hummer-Käse-Auflauf hat ihr für die Fertiggericht-Version vermutlich für immer den Appetit verdorben. Sie stöbert im Kühlschrank nach etwas anderem, vielleicht etwas Süßem, aber nichts lockt sie.
Alle drei Mädchen sind im Wohnzimmer. Sophie hat die Fernbedienung und das Kommando und scrollt die On-Demand-Optionen durch, während Jessica und Gracie alle möglichen Titel brüllen. Sie haben morgen keine Schule und heute Abend nichts vor – kein Basketballtraining, keine Theaterprobe, keine Hausaufgaben. Beth ist froh, einen entspannten Abend ohne Programm zu haben, an dem sie niemanden irgendwo hinfahren oder abholen muss, und, falls sie sich irgendwann entscheiden können, mit einem Film, den sie mit ihren Töchtern ansehen kann.
Sie macht ein Feuer im Kamin und legt einen Beutel Popcorn in die Mikrowelle. Die Mädchen sehen sich noch immer Filmtrailer an, noch immer unentschlossen. Beth holt sich eine Wolldecke und versucht es sich neben Grover auf der Couch gemütlich zu machen, aber sie fühlt sich unerklärlich rastlos. Sie steht auf und schaut aus dem Küchenfenster. Draußen sieht es kalt und dunkel und absolut nicht einladend aus, aber aus irgendeinem Grund muss sie das Haus verlassen. Sie nimmt sich ihren Mantel, Hut, Schal, Handschuhe und eine Taschenlampe.
»Ich gehe ein bisschen spazieren. Ich bleibe nicht lange fort. Fangt den Film nicht ohne mich an.«
»Okay!«, sagt Gracie.
Hypnotisiert von dem Fernseher, nehmen Sophie und Jessica nicht einmal wahr, dass ihre Mutter etwas gesagt hat. Gracie kann ihnen sagen, wo sie ist, falls sie es sich je fragen sollten.
Es ist eine dunkle, mondlose Nacht, aber die Sterne sind umwerfend, und es ist nicht so kalt, wie sie erwartet hat. Sie geht los, leuchtet mit ihrer Taschenlampe vor sich her, zunächst ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn, aber nach ein paar Minuten hat sie eines. Fat Ladies Beach. Es ist ein bisschen weiter als geplant, aber sie wird schnell gehen.
Sie geht auf der Schotterstraße, achtet auf den unebenen Boden im Strahl der Taschenlampe vor sich, auf ihre sichtbaren Atemzüge, hat das Tempo ihres Atems ihren Schritten angepasst. Sie kann rechts und links nichts sehen, aber sie kennt ihre Umgebung gut, die flache, grasige, unbebaute und fast baumlose Landschaft, die wie eine afrikanische Savanne aussieht. Es tut gut zu gehen, sich zu bewegen. Sie verbringt die meisten Tage, ihr ganzes Leben im Grunde, im Sitzen – am Küchentisch, in ihrem Wagen, auf ihrem Platz in der Bibliothek. Sie sitzt. Und steckt fest.
Ihre Nase und Wangen sind unbedeckt und eiskalt, und ihre Augen tränen von dem Wind, der ihr ins Gesicht bläst, aber ansonsten ist sie gut eingepackt. Sie spürt ihr Herz schnell schlagen, spürt die Muskeln in ihren Beinen brennen. Ihr ist heiß und kalt zugleich, und diese gegensätzlichen Energien gleichzeitig in sich zu haben löst irgendetwas in ihr aus, das sich unvertraut, aber aufregend anfühlt.
Sie erreicht den Strand, der, wie es ihr scheint, weit genug entfernt ist, auch ohne dass sie an ihm entlanggeht, aber bevor sie kehrtmacht, bleibt sie eine Minute stehen, um alles in sich aufzunehmen. Sie schaltet ihre Taschenlampe aus und lauscht auf die Wellen, die sich für sie anhören, als würde die Erde selbst atmen. Sie reckt das Kinn und starrt zu dem sternenübersäten Himmel hoch, auf seine gewaltige, komplizierte, unergründliche Weite, aber auch auf seine schlichte, zugängliche Schönheit, in seiner Existenz erklärt von den logischen Gesetzen der Physik und zugleich, letztendlich, völlig unerklärlich.
Sie ist die Einzige hier. Sie ist völlig allein, und doch fühlt sie sich auf eine seltsame und wunderbare Weise mit allem verbunden. Zwei gegensätzliche Energien, in ihr zusammengehalten, lösen etwas in ihr aus.
Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, zu Wolldecken und Popcorn und einem Film mit ihren Töchtern. Sie hat den Strand verlassen und geht wieder auf der Schotterstraße, als der Strahl ihrer Taschenlampe zwei schimmernde weiße Lichter trifft, wie zwei gefallene
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