Der Liebe eine Stimme geben
Glück und Autismus in ein und demselben Zimmer, in demselben Satz, in ihrem Herzen, koexistieren konnten, starb Anthony, und Glück war etwas, was sie sich nicht mehr vorstellen konnte.
Er starb, und noch lange Zeit nach diesem schlimmsten aller Morgen ging sie seinen Tod in Gedanken immer wieder durch, ließ dem schweren Schmerz freien Lauf, der noch immer an diesen Bildern haftet und sie jeden Tag in einem Tsunami verheerender Trauer verzehrt. Sie dachte, sie würde ewig so weitermachen, sie müsste ewig so weitermachen. Ihre Trauer war ihre tägliche Pflicht, ihr Elend ein bescheidener Tribut an ihren Sohn.
Aber ihre Tagebücher zu lesen hat ihr geholfen, sich an mehr als jenen Morgen zu erinnern. Anthonys Leben war mehr als nur sein Tod. Und Anthony war mehr als nur sein Autismus. So viel mehr. Jetzt kann sie an Anthony denken, ohne von Autismus oder Trauer verzehrt zu werden.
Aber nicht von Trauer verzehrt zu werden ist noch immer weit davon entfernt, glücklich zu sein. Sie verstaut die Geleegläser auf einem Regal in der Speisekammer, behält nur eines auf dem Küchentresen. Jetzt stellt sie sich David vor, und sie lächelt. Das Bild wechselt von David zu Anthony. Sie haben denselben Mund, dieselben Grübchenwangen. Anthony lächelt. Es ist ein Bild, das sich leicht aufrechterhalten lässt, eine zugängliche Erinnerung, echt. Trotz all seiner Frustration und Aggression und Unfähigkeit zu kommunizieren, war Anthony die meiste Zeit glücklich. Das war sein Wesen. Mit der Zeit ist es auch Davids Wesen geworden.
Sie schneidet sich eine dicke Scheibe Brot ab, bestreicht sie mit Gelee und schenkt sich ein Glas Merlot ein. Sie macht es sich in dem Sessel im Wohnzimmer vor einem leuchtenden Kaminfeuer gemütlich und nimmt einen Bissen von ihrem Brot. Ihr selbst gemachtes Gelee schmeckt süß, mit einem würzigen Beigeschmack, köstlich.
Sie hört zu, wie David in ihrem Kopf seinen Brief vorliest, während sie Anthonys Bild an der Wand betrachtet, und sie kommt zu dem Schluss, dass sie fertig mit Kochen ist. Nachdem sie zwei Wochen lang gehackt und gewürfelt und sautiert und geschluchzt hat, ist sie endlich fertig mit allem. Sie ist fertig, und sie hat ein Gefrierfach voller Trostessen und ein unbestimmtes und doch echtes Gefühl von Hoffnung.
Wenn David Glück finden und noch einmal von vorn anfangen kann, dann kann sie es vielleicht auch. Glück. Geteiltes Glück. Vielleicht liegt es in der menschlichen Natur. Und sie muss es nur zulassen.
Während sie ihr Brot mit Gelee isst und über diese neue Aussicht nachgrübelt, starrt sie zu ihrem Foto von Anthony an der Wand hoch. Sie trinkt ihren Wein und bewundert ihre Sammlung weißer Steine in der Glasschale auf dem Couchtisch vor sich – Anthonys Steine, dazu die Steine, die sie hier auf Nantucket gesammelt hat, und der Stein, den Beths Tochter ihr geschenkt hat. Sie beugt sich vor, nimmt einen der oberen Steine aus der Schale und hält ihn in der Hand. Er fühlt sich unerwartet warm an, als hätte jemand anders ihn bereits gehalten.
Oh, mein Anthony, warum warst du hier?
Der durchdringende, hohle Schmerz, der im Allgemeinen auf diese Frage folgt, stellt sich nicht ein. Stattdessen erfüllt eine ruhige Energie ihr Herz mit einer Wahrheit, die bereits bekannt ist, aber eher ein nicht greifbares Gefühl als eine Tatsache, die in Worte gefasst werden kann. Sie sitzt still da und lauscht, aber nicht mit ihren Ohren.
Sie spürt, wie ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt wird. Sie betrachtet die neuen Bücher auf dem Tisch neben dem Kamin. Sie steht auf und kauert sich davor hin, betrachtet die Buchrücken, Krimis und Memoiren und Romane, in die sie sich vertiefen will. Sie legt eine Hand auf das oberste Buch auf dem Stapel. Nicht diese .
Sie geht in die Küche, sucht sich einen roten Stift und kehrt zurück zu ihrem Wohnzimmersessel, ein dickes Bündel Papier in der Hand, das von einer rot-weißen Bäckereischleife zusammengehalten wird.
Ohne Titel, von Elizabeth Ellis .
Sie sieht zu ihrem Foto von Anthony an der Wand hoch und lächelt ihn mit den Augen an. Sie legt den weißen Stein zurück in die Glasschale, wickelt sich eine Decke um den Schoß, löst die Bäckereischleife und beginnt zu lesen.
DREIUNDDREISSIG
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»Mann, da draußen ist es vielleicht scheußlich.« Jimmy stellt seine Stiefel an der Tür ab, bevor er Beth gegenüber auf der Couch Platz nimmt.
Er bläst in seine Hände, die rosig und nass von dem kalten Regen sind, und
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