Der Liebe eine Stimme geben
sie das Haus nicht verlassen müssen, um Essen zu besorgen. Aber das ist nur, was sie sich einredet. Tatsächlich war das Kochen aus anderen Gründen notwendig.
Sie hat mit dem Kochen angefangen, gleich nachdem sie den Brief von David gelesen hatte. Das erste Rezept, dem sie sich zuwandte, war die Pasta Fagioli, die sie auswendig weiß, die Suppe, die ihre Mutter samstags immer kochte. Ihre Augen brannten, während sie die Zwiebeln hackte, und sie war dankbar für die beißenden Tränen. Sie weinte, während sie den Knoblauch und den Sellerie und die Tomaten hackte. Sie schluchzte, während sie die Brühe und die Bohnen umrührte, und dann, als die Suppe fertig war, hörte sie auf. Sie tat dasselbe, während sie die Schwarze-Bohnen-Suppe, die Tomatencremesuppe und die Fleischklöße machte, aber als sie zu den Zwiebeln für das Butternusskürbis-Risotto kam, spülte sie sie unter kaltem Wasser ab, wischte sich die Augen mit dem Ärmel und kochte das Rezept zu Ende, ohne zu weinen.
Sie ist fertig mit Weinen, ausgelaugt, aber sie kocht noch immer weiter. Offenbar ist es das Einzige, was sie tun kann, um nicht den Verstand zu verlieren. Einen Topf füllen, die Leere füllen. Sie hält ihre Hände in Bewegung, rührt, hackt, gießt. Ihre Hände gehen die einzelnen Schritte für das Cranberrygelee durch, und sie kann über David und seinen Brief nachdenken, ohne dass sie davon aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Sie hat den Brief inzwischen so oft gelesen, analysiert und darüber geweint, dass sie ihn genauso gut kennt wie das Rezept ihrer Mutter für Pasta Fagioli.
Liebe Liv,
ich wollte dir lieber schreiben, als anzurufen. Es erscheint mir irgendwie angemessener, und ich wollte dir diese Neuigkeit lieber selbst sagen, bevor du sie von irgendjemand anderem erfährst. Ich werde heiraten. Sie heißt Julie. Sie ist Mathematiklehrerin. Ich habe sie hier in Chicago kennen gelernt. Ich weiß, es ist sehr früh, aber es fühlt sich richtig an. Ich fühle mich bereit dazu.
Ich wünschte, ich hätte zu diesem Ort mit dir, Liv, zurückkehren können. Es tut mir leid, dass ich es nicht getan habe. Ich weiß, ich habe dir und Anthony nicht mein Bestes gegeben. Ich nehme an, bei all dem, was wir durchgemacht haben, habe ich mich selbst ein bisschen verloren. Ich habe vergessen, wie man glücklich ist. Ich glaube, das haben wir beide vergessen.
Ich hoffe, dass dich diese Neuigkeit nicht verletzt, obwohl ich weiß, dass sie es vermutlich tun wird. Das ist nicht meine Absicht. Das war es nie. Ich wünsche mir jeden Tag, dass es dir gut geht, dass du ebenfalls wieder Glück findest. Ruf mich an, wenn du willst.
Alles Liebe,
David
Jetzt, wo sich der erste Schock über den Brief gelegt hat und Zwiebeln keine stundenlangen, die Seele zermürbenden Tränen mehr auslösen, haben sich der Reihe nach andere, weniger aufwühlende Gefühle eingestellt. Während sie in dem Augenblick, bevor sie Davids Brief öffnete, noch zufrieden damit war, allein zu sein, fühlt sie sich jetzt verlassen in ihrer Einsamkeit. Sie vergewissert sich, ob die Geleedeckel fest verschlossen sind, und ihr graut davor, für immer allein zu sein.
Eine Mathematiklehrerin namens Julie. Das klingt jung. Und hübsch. Und aus irgendeinem Grund blond. Olivia nimmt die Gläser aus dem Wasserbad und reibt jedes mit ihren eifersüchtigen Händen an ihrer Schürze trocken.
Sie werden vermutlich Kinder haben. Sie stellt sich vor, wie David ein gewickeltes Baby in seinen Armen hält, ein Haus voller Kinder, die ihm und nicht ihr gehören, eine große Familie. Diese Bilder in ihrem Kopf, lebendig und schmerzlich schön, drücken ihr die Luft ab, so wie immer, und sie wünscht, sie könnte irgendetwas tun, um sie aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Sie hält sich an der Kante des Küchentresens fest und wartet darauf, dass sie entweder atmet oder weint. Heute atmet sie.
Sie liest sich den Brief in Gedanken noch einmal durch, und es ist der Klang von Davids Stimme, den sie hört. Seine Stimme ist leicht und glücklich. Er ist glücklich, und er hat eine Frau namens Julie gefunden, mit der er sein Glück teilen kann.
Er hat recht. Sie hat vergessen, wie man glücklich ist. Anfangs war es nicht vorrangig. Anthony hatte Autismus, und jedes bisschen Energie wurde dafür verwendet, ihn zu retten. Ihr Glück war nicht von Belang. Und später schien es nicht angemessen. Wie konnte sie glücklich sein, wenn sie eine Tragödie lebten? Und dann, als sie eben anfing zu begreifen, dass
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