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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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nur so viel, dass es für eine dünne Schneedecke reicht. Wenn es in Hingham im März schneit, dann werden die Schulen geschlossen und die Straßen geräumt, und es fällt so viel Schnee, dass niemand weiß, wohin damit. Olivia hat nie einen Hehl aus ihrem Hass auf den Märzschnee gemacht, aber sie musste zugeben, dass das Weiß wenigstens die kahle, trostlose, vorfrühlingshafte Landschaft aufhellte.
    Auf Nantucket schneit es nicht so wie in der Nähe von Boston. Umgeben vom Meer ist die Luft im Allgemeinen zu feucht, um die Struktur einer zarten Flocke aufrechtzuerhalten, und stattdessen regnet es. Ein paarmal ist ihr hier aufgefallen, dass der Boden matschig war, aber sie hat in diesem Jahr nie wirklichen Schneefall gesehen, und sie musste kein einziges Mal Schnee räumen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie hier überhaupt eine richtige Schneeschaufel besitzt. Die einzige Schaufel, die ihr einfällt, liegt auf der Rückbank ihres Jeeps, damit sie sich aus dem Sand, nicht dem Schnee, herausschaufeln kann, falls sie mit dem Jeep stecken bleibt.
    Aber auch wenn es hier nicht so schneit wie auf dem Festland, fühlt es sich trotzdem nicht wie Frühling an. Selbst an sonnigen Tagen ist die Kälte unerbittlich. Und irgendwie erscheint alles dunkel eingefärbt, so wie die Welt durch eine Sonnenbrille aussieht. Es ist seit Monaten derselbe kalte und graue Wintertag. Die Zeit ist hier im wahrsten Sinne des Wortes eingefroren.
    Dem Schreiben ihres Anwalts zufolge ist ihr Scheidungsverfahren ebenfalls eingefroren. Die Trennung ist einvernehmlich und schuldlos, ihre Scheidung seit Langem eines der wenigen Dinge, über die sie und David sich nicht gestritten haben. Sie hat das ganze Dokument jetzt dreimal durchgelesen. Sie verharrt gern bei dem Wort schuldlos , schwarz auf weiß hier auf diesem offiziellen juristischen Blatt Papier, als würde der Bundesstaat Massachusetts ihnen persönlich Anerkennung zollen, sie beide von jedem Vorwurf entlasten. Das Scheitern ihrer Ehe war weder seine noch ihre Schuld.
    Das Wort Autismus war kaum verhallt, da fragte Anthonys Kinderneurologe sie allen Ernstes: Wie läuft Ihre Ehe? Olivia kann sich erinnern, wie sie sich darüber empörte und dachte: Was geht Sie das denn an? Und: Wir reden hier von Anthony, nicht von mir und David. Aber der Neurologe kannte ihre Zukunft. Er hatte es zu oft gesehen, den Zusammenhang von Autismus und Scheidung.
    Sie kann sich nicht erinnern, ob sie ihm geantwortet hat. Sie kann sich an fast nichts erinnern, was nach dem Wort Autismus an jenem Tag in jener Praxis gesagt worden ist, aber sie hat seitdem oft über seine Frage und ihre Antwort nachgedacht. Falls sie an jenem Tag eine höfliche Antwort über die Lippen gebracht hat, einem Tag, der, wie sie glaubte, bestimmt der mit Abstand schlimmste Tag ihres Lebens war – nur um ein paar kurze und lange Jahre später unbestreitbar und für alle Zeiten von diesem Platz verwiesen zu werden –, dann hat sie vermutlich so etwas wie gut gesagt. Und vielleicht wäre ihre Ehe tatsächlich gut geblieben, wenn man sie beide nicht auf eine Weise unter Druck gesetzt und zerrissen und zu Grunde gerichtet hätte, die sich zwei verheiratete Menschen niemals hätten vorstellen können, als sie sich in Schale warfen und Ja, ich will sagten.
    Nein, nach jenem Tag ging es ihnen mit Sicherheit nicht mehr gut. Wie auch könnte es jemandem nach so einer Diagnose noch gut gehen? Das wäre ja, als würde man eine gläserne Vase gegen eine Ziegelwand werfen und erwarten, dass sie nicht in tausend Stücke zerspringt, sondern überrascht und bestürzt darüber tun, dass sie kein Wasser mehr hält. Die Vase wird immer zerspringen. So ist das, wenn Glas auf Ziegelstein trifft. Es ist nicht die Schuld der Vase.
    Als sie nach dem College noch immer miteinander gingen, als sie in die »richtige Welt« eintraten und das mit ihnen ernst wurde, fragte sich Olivia, ob David das Zeug zum Ehemann hatte. Sie erstellte in Gedanken eine Liste erforderlicher Eigenschaften und begann Kästchen abzuhaken: Gut aussehend. Schlau. Witzig. Guter Ernährer. Handwerklich geschickt. Liebt Kinder. Alles abgehakt. Sie heirateten, als sie vierundzwanzig war.
    Sie dachte nie an all die anderen Kästchen, die sie auf diese Liste hätte setzen sollen: Kann jahrelang mit wenig Schlaf auskommen. Ist bereit, sich jeden Tag das Herz und den Willen brechen zu lassen. Hat nichts dagegen, alles Geld, das er verdient, in ein Fass ohne Boden zu werfen.
    Wie der Bundesstaat

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