Der Liebe eine Stimme geben
Plätze besetzt sind.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt das Mädchen hinter der Theke.
»Ich hätte gern einen großen Latte und ein Blaubeerscone, bitte.«
»Die Scones sind leider schon aus.«
»Oh, okay, dann nur den Latte.«
»Milch oder Soja?«
»Milch.«
»Normale, zweiprozentige oder fettfreie?«
»Äh, normale. Was ist denn heute los?«
»Wie bitte?«
»Warum sind hier so viele Leute?«
»Die Narzissen.«
Olivia denkt nach. »Ist das eine Band?«
Das Mädchen mustert Olivia von Kopf bis Fuß, abschätzig, wie junge Leute ältere Leute ansehen, die keine Ahnung haben. »Die Blume? Kennen Sie sie nicht? Warum sind Sie denn hier?«
»Ich lebe hier.«
»Ach«, sagt das Mädchen, als könnte sie es gar nicht glauben.
»Das heißt, diese ganzen Leute sind nur hier, um ein paar Narzissen zu sehen?«
»Aber ja, auf der ganzen Insel stehen ungefähr drei Millionen in Blüte.«
Drei Millionen . Wirklich? Ihr ist keine einzige aufgefallen. Und gibt es jemanden, der sie tatsächlich zählt? Olivia hat den Verdacht, dass dieses Mädchen übertreibt, wie es junge Leute gern tun. »Das heißt, die Leute fahren einfach durch die Gegend und sehen sich die Blumen an?«
Das Mädchen reicht Olivia ihren Latte, und Olivia bezahlt ihn.
»Es gibt ein ganzes Festival, den Festumzug, die Wagenpicknicks –«
»Wagenpicknicks?«
»Drüben in ’Sconset.«
»Gibt es auch ein Footballspiel?«
Das Mädchen lacht.
»Entschuldigung, sind Sie fertig? Die Schlange hier ist lang«, sagt der Typ hinter Olivia.
»Verzeihung.«
Olivia geht aus dem Weg und sieht sich ein letztes, hoffnungsvolles Mal in dem Café um. Kein Platz frei. Sie schiebt sich gegen die hereindrängende Schlange wieder nach draußen und kehrt zu ihrem Wagen zurück. Während sie die Main Street hinunter über das Kopfsteinpflaster holpert, bevor sie wieder auf glatten Asphalt kommt, bemerkt sie zum ersten Mal die ganzen Narzissen – in Gärten und Blumenkästen gepflanzt, Zäune und Vorgärten säumend, ein paar »wilde« Exemplare hier und da am Straßenrand. Sie sind überall. Warum sind sie ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen?
Narzissen und Wagenpicknicks. Auf einmal ist ihre Neugier geweckt, und sie beschließt, einen kleinen Abstecher hinüber nach ’Sconset zu machen. Sie und David haben früher mit ihren Freunden vor jedem Football-Heimspiel am Boston College ein Wagenpicknick veranstaltet. Alle trugen BC -Sweatshirts, -jacken und -kappen. Irgendjemand brachte immer einen Grill und ein paar kleine Fässer Bier mit – es gab verkohlte Cheeseburger und Milwaukee’s Best aus Plastikbechern. David und seine Freunde diskutierten leidenschaftlich über die Spieler, und jedes Mal verglich irgendjemand den Quarterback mit Flutie, und dann stritten sie sich darüber, wer besser war. Am späten Vormittag, lange vor dem Anpfiff, waren sie alle betrunken.
Als sie sich der Main Street von ’Sconset nähert, sieht sie schon die Wagenpicknicker, die Stoßstange an Stoßstange auf dem Grünstreifen zwischen der Milestone Road und dem Fahrradweg parken. Jetzt steckt sie in dichtem Verkehr, aber sie fährt sogar noch langsamer, als sie muss, um sich alles besser ansehen zu können. Ein Wagen, der vor ihr auf dem Gras parkt, fährt in dem Augenblick los, in dem sie sich nähert, und sie beschließt, seine Parklücke zu übernehmen.
Sie schnappt sich ihre verspiegelte Sonnenbrille, steigt aus ihrem Jeep und geht zu Fuß los. Die Main Street ist für den Autoverkehr gesperrt, daher geht sie mitten auf der Straße. Die Autos der Wagenpicknicker sind jetzt hauptsächlich Oldtimer oder schicke Cabrios und müssen eine Sondergenehmigung bekommen haben, um hier zu sein. Die meisten Nummernschilder sind aus New York oder Connecticut. Diese Leute leben nicht das ganze Jahr hier.
Sämtliche Autos sind mit Narzissen geschmückt – riesigen Sträußen, die an Spiegeln und Dachgepäckträgern und Motorhauben befestigt sind. Auch die Menschen sind mit Narzissen geschmückt. Hüte, Lei-Kränze, Anstecksträußchen, Knopflochblumen. Fast alle sind dem Anlass entsprechend gekleidet, lässig, aber feierlich in irgendeiner Kombination aus gelber Kleidung mit Narzissen-Accessoires. Einige Frauen tragen elegante Frühlingskostüme und hohe Absätze, und ein paar Männer tragen Seersucker-Anzüge und Krawatten, als wären sie auf einer englischen Landpartie. Es sieht aus wie ein von den Kennedys ausgerichteter Karnevalsumzug.
Es gibt keine Bierfässer. Es gibt
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