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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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nach rechts in die India Street ab, beginnt mit ihrer dritten Runde um den Block, während sie sich schwört, die Mission abzubrechen, wenn sie wieder keinen Parkplatz finden kann. Sie will eben schon aufgeben und überlegt, ob sie zum Stop & Shop fahren soll, um sich mit einer Packung Kaffee zu trösten, oder vielleicht zum Downyflake am Stadtrand, da entdeckt sie eine Lücke vor dem Atheneum, zwischen einem Hummer-Geländewagen und einem Land Cruiser.
    Das Atheneum ist die Bibliothek von Nantucket, ein stattlicher weißer Bau, dessen Eingang von zwei kolossalen ionischen Säulen flankiert wird. Es sieht aus wie ein architektonischer Anachronismus, eher wie ein antiker griechischer Tempel als eine moderne Bibliothek, als würde es auf die Akropolis gehören, nicht ins Zentrum der ansonsten schrulligen, historisch restaurierten, Neuengland-typischen Stadt Nantucket. Jetzt, wo sie schon einmal hier ist, und da sie sich vorstellt, wie schön es wäre, ein Buch zu lesen, während sie im The Bean ihren Latte trinkt, wie in alten Zeiten, nur ohne David, beschließt sie, rasch hineinzulaufen und sich etwas zu lesen zu suchen.
    Nach dem Stop-and-go-Verkehr draußen war zu erwarten, dass es in der Bibliothek von Leuten nur so wimmeln würde. Überall stehen Kinderwagen, Mütter und Väter tadeln und rufen ihre Kinder, Kinder schreien und rennen von ihren Eltern weg. Ein Baby in einem der Kinderwagen wimmert untröstlich. Es herrscht ein Riesengedränge, und die Stimmen hallen laut von den hohen Decken wider. Die Energie scheint völlig fehl am Platz, respektlos, wie wenn Kinder in einer Kirche reden und herumalbern, und Olivia bereut fast ihre Entscheidung, hineingegangen zu sein.
    Als sie sich bis zum Auskunftsschalter durchgekämpft hat, hält sie inne. Sie fragt sich, ob sie wirklich dringend genug ein Buch will, um sich durch das chaotische Gewühl vor ihr zu schieben, und beschließt letztendlich, lieber von hier zu verschwinden. Sie will sich eben umwenden und gehen, als sie ein vertrautes Buch allein auf dem RÜCKGABE -Metallwagen stehen sieht. Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone .
    Sie hat dieses Buch vor Jahren gelesen, kurz nachdem Anthonys Diagnose gestellt wurde, als Teil ihrer Mission, alles zu lesen, was je über Autismus geschrieben wurde. Sie erinnert sich, damals gedacht zu haben, wie sehr sich der Autismus der Hauptfigur von dem ihres Anthonys unterschied. Genau entgegengesetzte Enden des Spektrums, wie Rot und Violett in einem Regenbogen. In den offensichtlichsten Punkten waren sie völlig verschieden, und doch fand sie feine und verblüffende Ähnlichkeiten, die sie trösteten, ihr die Hoffnung zurückgaben. Violett ist nicht Blau, weil es auch Rot enthält.
    »Ich nehme das hier, bitte«, sagt sie, nachdem sie zu dem Schluss gekommen ist, dass sie bereit ist, es wieder zu lesen.
    Nachdem sie den Papierkram für einen Bibliotheksausweis erledigt hat, eilt sie zur Tür hinaus und die Stufen vor der Bibliothek hinunter, ihr ausgeliehenes Buch in der Hand, froh, wieder draußen zu sein. Sie geht um die Ecke zum The Bean, erwartet, dass sie einfach hineinschlendern kann, aber ein ganzes Stück vor dem Eingang wird sie von einer gewundenen Schlange Kunden aufgehalten. Es ist eiskalt, und die Schlange ist lang, und doch scheinen alle um sie herum außergewöhnlich guter Laune zu sein. Olivia verlässt ihr Haus nur selten, aber wenn sie sich doch einmal hinauswagt – zum Supermarkt, zur Bank –, herrscht nie irgendwo Gedränge. Sie hat in keiner einzigen Schlange mehr angestanden, seit sie nach Nantucket gezogen ist. Sie hat sich an die stille Beschaulichkeit ihres Lebens hier gewöhnt, die Bequemlichkeit, alles, was sie braucht, auf einen Sprung zu besorgen, mit einem Minimum an zwischenmenschlichem Kontakt.
    Sie wirft einen Blick auf ihr nacktes Handgelenk, um nach der Uhr zu sehen, während sie sich fragt, wie lange das hier dauern wird. Es muss weit nach Mittag sein. Warum sind diese ganzen Leute hier? Sie schlägt sich den Mantelkragen bis zum Kinn hoch, steckt die Hände in die Taschen, schließt die Augen und atmet durch.
    Endlich rückt die Schlange weiter, und sie betritt das Café. Es ist genau so, wie sie es in Erinnerung hat – der ausgetretene Holzboden, der tränenförmige Kristallleuchter, die antiken Kupfer- und Zinnteekessel auf den Regalen, die Gläser mit Biscotti. Aber die Freude über die vertraute Umgebung wird ihr rasch vergällt, als sie sieht, dass alle

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