Der Liebe eine Stimme geben
irgendeinem Zeitpunkt am Strand viel los war. Jetzt ist er fast leer. Es sind mehr Möwen als Menschen hier.
Olivia mag die Möwen auf Nantucket, die den Möwen am Nantasket Beach – der Strand, zu dem sie immer fuhr, als sie in Hingham lebte – nur insofern ähneln, als sie beide weiß-graue Küstenvögel sind. Die Möwen von Nantasket sind unersättliche geflügelte Ratten, die auf alles Beute machen, worauf Nabisco oder Frito-Lay steht. Sie schleichen um die Ränder von Stranddecken, warten auf einen unbeobachteten Augenblick, um eine verschlossene Tüte Kartoffelchips aufzuhacken oder mit einem ganzen Tunfischsandwich davonzufliegen.
Die Möwen hier schenken den Leuten und ihren industriell verarbeiteten Lebensmitteln kaum Beachtung. Sie sieht zu, wie sich eine von ihnen eine Krabbe aus dem seichten Wasser schnappt und es sich dann in einer warmen Sandkuhle gemütlich macht, wo sie ihr die Beine abreißt und den fleischigen Körper verschlingt. Sie sieht zu, wie eine andere hinüber zum Parkplatz fliegt, wo sie eine Muschel auf den Asphalt fallen lässt, um die Schale aufzuknacken. Warum sich mit Quarkbällchen zufriedengeben, wenn frische Meeresfrüchte im Überfluss auf der Speisekarte stehen? Diese Möwen sind prächtige und ansehnliche Vögel.
Olivia verfolgt den Flug einer anderen Möwe über den bewölkten Horizont, während sie sich fragt, ob es möglich ist, diesem Anblick gegenüber je gleichgültig zu werden. Das Wasser am Rand der s-förmigen Küstenlinie ist ein metallisch blauer Tanz plätschernder Wellen, aber als ihr Blick über das Meer hinauswandert, wird alles still und glatt und fast weiß. Eine messerscharfe Linie aus klarem Dunkelblau trennt den Ozean von dem rosa errötenden Himmel am Horizont. Hinreißend schön.
Die Möwe verschwindet in der Ferne. Oliva schaut auf ihre Armbanduhr. Nach einer halben Stunde Verspätung ruft sie die Kunden im Allgemeinen an, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich kommen werden und es nicht vergessen oder sich anders überlegt haben. Während sie in ihrer Kameratasche nach ihrem Terminkalender und ihrem Telefon wühlt, sieht sie sie auf sich zukommen, die Mutter und ein angeleinter Hund voran, drei Mädchen in verschiedenfarbigen Tanktops und Jeans im Schlepptau.
»Olivia? Hi, ich bin Beth Ellis. Entschuldigen Sie die Verspätung.«
»Hi, Beth. Kein Problem.«
»Wir hatten ein Kleiderproblem. Ich weiß, normalerweise ziehen sich alle zueinander passend an. Meinen Sie, wir sehen okay aus so?«
Beth hat recht. Jede Familie trägt immer zueinander passende Kleider, wie Uniformen eines Teams. Alle verwaschene blaue Hemden und Khakihosen oder alle weiße Hemden und rote Nantucket-Hosen. Es sieht nett aus, wenn alles zusammenpasst, aber es ist nicht wirklich notwendig. Sie fragt sich, wer auf diese sehr autistische Regel für Familienporträts gekommen ist.
»Sie sehen toll aus.«
Beth verdreht die Augen. »Vor einer halben Stunde sahen wir toll aus. Ich hoffe, es ist nicht allzu peinlich.«
»Nein, die Farben sind witzig.«
»Noch einmal, Entschuldigung. Bevor wir anfangen – meine Älteste würde gern wissen, ob Sie ihren Pickel wegretuschieren können.«
»Mom!«, sagt die Älteste.
Alle drei Mädchen haben sich jetzt hinter Beth versammelt. Olivia wirft einen Blick in ihren Terminkalender. Sophie, Jessica und Gracie.
»Betrachte ihn als nicht mehr vorhanden, Sophie. Niemand wird ihn je zu sehen bekommen«, sagt Olivia.
Sophie lächelt gerade genug, um höflich zu sein. Dieser Pickel sieht schmerzhaft aus.
»Könnten Sie vielleicht auch diese Falte hier entfernen, wenn Sie schon dabei sind?« Beth zeigt auf eine tiefe senkrechte Furche zwischen ihren Augenbrauen. »Und alles, was um meine Augen älter als fünfunddreißig aussieht?«
Digitale Gesichtschirurgie. Olivia kann alle Spuren von dunklen Ringen, Krähenfüßen und Altersflecken mit ein paar präzisen Klicks mit ihrer Computermaus entfernen. Was immer sonst noch für ihre Fotografien spricht – die magische Stunde, die korrekte Blendeneinstellung, Komposition, ausdrucksvolle Mienen, genau im richtigen Moment festgehalten, alle lächelnd, mit offenen Augen – ihre Fähigkeit, Jahre vom Gesicht einer Frau dezent wegzuretuschieren, hat vermutlich den größten Marktwert.
»Sie werden nicht einen Tag älter als dreißig aussehen. Fangen wir dort drüben am Wasser an.«
Olivia hat für ihre Strandporträts eine Pflicht-und-Kür-Philosophie entwickelt. Sie macht immer die
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