Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
die Kleiderschränke der Mädchen durch. Gracie hat recht. Auf allen weißen Blusen und T-Shirts ist irgendetwas abgebildet. Beth sieht auf die Armbanduhr. Sie sind spät dran. Sie ist nie spät dran. Sie ist gern früh dran. Ihr Gesicht fühlt sich heiß an. Ihr von der Sonne sanft gebräunter Teint glüht jetzt rot vor Stress.
    Plan C.
    »Okay, hört zu. Jede von euch hat ein einfarbiges Tanktop. Es ist mir egal, welche Farbe, ohne Aufschrift, geht und sucht eines und zieht es an. Los! Los! Los!«
    Gracie und Jessica flüchten die Treppe hoch, und Beth rennt hinter ihnen her.
    »Sophie!«, brüllt Beth durch den hauchzarten weißen Stoff ihrer schönen weißen Bluse, während sie sich in ihrem eigenen Schlafzimmer auszieht. »Zieh dir ein Tanktop an!«
    »Was? Warum?«, ruft Sophie.
    »Tu einfach, was ich dir sage!«
    Beths Tanktops sind alle schwarz, daher hat sie sich blitzschnell umgezogen. Sie wartet am oberen Ende der Treppe auf ihre Mädchen, in der Diele mit den traurigen und einsamen Bilderrahmen. In jeder Sekunde, die verstreicht, schlägt sie sich mit der Hand an die Stirn. Sophie ist erstaunlicherweise die Erste, die wieder zu ihr kommt. Sie trägt ein rotes Tanktop, ohne Aufschrift, und sie sieht toll aus, bis auf ihr Gesicht.
    »Entschuldige, hast du dich geschminkt?«, fragt Beth.
    »Nur ein bisschen.«
    »Wo hast du das her?«
    »Alena. Ihre Mutter erlaubt es ihr.«
    »Na ja, deine Mutter nicht.«
    »Das ist nicht fair.«
    »Das Leben ist nicht fair. Komm her.«
    Beth betrachtet Sophies zurechtgemachte Augen, die verblüffend blau sind – und nur ein paar Zentimeter unter Beths. Sie wird ihrer ältesten Tochter nicht mehr lange verbieten können, sich zu schminken, aber zumindest für dieses Foto kann sie es verhindern.
    Sie widersteht dem Drang, sich die Hand abzulecken und Sophies Gesicht mit ihrem eigenen Speichel abzuwischen. Stattdessen nimmt sie sie bei der Hand und zieht sie ins Bad. Sie pumpt etwas Handseife in einen Waschlappen, befeuchtet ihn im Waschbecken und schrubbt Sophies Augen und Wangen sauber.
    »Autsch, mein Pickel!«
    »Entschuldige. Den Lipgloss kannst du behalten, aber mehr nicht.«
    Die anderen beiden sind jetzt in der Diele. Gracie trägt ein rosa Tanktop, und Jessica ein blaues. Ohne Aufschrift. Ohne Flecken.
    »Okay! Los geht’s!«
    Sie rennen die Treppe hinunter, Beth klatscht in die Hände und ruft Grover zu, ihnen zu folgen, und sie stürmen alle zum Wagen. Im Rückspiegel betrachtet Beth ihre Mädchen auf der Rückbank, während sie den Schlüssel in die Zündung steckt. Gracies Augen sind verquollen vom Weinen. Sophies Gesicht ist fleckig, weil sie es zu hart mit dem Waschlappen abgeschrubbt hat, und sie hat tatsächlich einen riesigen Pickel auf der Wange. Jessica hat die Zähne zusammengebissen und die Arme verschränkt. Sie sieht wütend aus, aber Beth kann sich nicht denken, warum. Sie tragen alle verschiedenfarbige Tops, und Beths Gesicht fühlt sich noch immer glühend heiß an.
    Sie sollten alle Weiß tragen. Sie sollten alle ruhig und zufrieden sein. Sie sollten pünktlich sein. Und Jimmy. Es ist ihr Familienporträt. Zu ihrer Familie sollte auch Jimmy gehören.
    Vielleicht sollte sie anrufen und absagen. Sie denkt an die schönen, hauchzarten weißen Blusen und ihre Diele mit den traurigen und einsamen Bilderrahmen. Sie sieht noch einmal zurück zu ihren drei Mädchen und dann auf den leeren Beifahrersitz. Das hier ist ihre Familie. Sie holt einmal tief Luft, atmet durch den Mund aus, legt den Rückwärtsgang ein und fährt ihre verspätete, nicht zusammenpassende, verquollene, fleckige, pickelige, wütende, Jimmy-lose Familie nach Cisco Beach.

ZWANZIG
----
    Olivia sieht auf ihre Armbanduhr. Ihre Kundin ist spät dran. Das ist, wie sie in ihrer kurzen Erfahrung bereits festgestellt hat, typisch. Wenn es nicht die ganze Familie ist, dann ist es ein verirrter Cousin, der die Wegbeschreibung nicht bekommen hat, oder es ist eine unverzichtbare Schwester, die direkt von der Fähre kommt, oder es ist ein Vater, der zwar hier ist, aber im Moment noch im Wagen sitzt und ein berufliches Telefonat zu Ende führen muss. Er wird in einer Minute fertig sein. Oder in dreißig.
    Deswegen ist sie dazu übergegangen, einen Strandstuhl mit zu diesen Porträtsitzungen zu nehmen. Es macht ihr nichts aus, an einem schönen Strand zu warten, solange sie irgendwo sitzen kann. Heute war es bewölkt, es sah den ganzen Tag nach Regen aus, und Olivia nimmt nicht an, dass zu

Weitere Kostenlose Bücher