Der Liebe eine Stimme geben
irgendetwas von irgendjemandem zu lesen. Sie wollte nie diejenige sein, die einer anderen Frau sagte, sie solle ihren Tagesjob nicht aufgeben, die ihre Träume platzen ließ. Sie sieht auf Beths nackte Füße, auf ihre blau lackierten Zehennägel, auf ihr Exemplar von Wie man seine Ehe kittet , auf den Ehe- und den Verlobungsring, die sie noch immer am Finger trägt, auf den hoffnungsvollen Ausdruck in ihrem einsamen Gesicht. Sie seufzt. Sie hat Zeit.
»Na klar. Ich würde sehr gern einen Blick darauf werfen, wenn Sie fertig sind. Geben Sie mir einfach Bescheid.«
»Vielen Dank!« Beths Miene hellt sich auf.
Olivia lächelt. Sie verlagert den Strandstuhl unter ihrem rechten Arm. Er kam ihr leicht vor, als sie ihn in die Hand genommen hat, aber inzwischen fühlt er sich schwer und unhandlich an. Und der Riemen ihrer Kameratasche schneidet in die nackte Haut ihrer Schulter ein. Sie hat kein Sweatshirt dabei, und sie fröstelt in ihrem ärmellosen Sommerkleid. Sie sieht über Beths Schulter.
»Da kommen Ihre Mädchen.«
Beth dreht sich um und sieht ihre Töchter und ihren Hund auf sich zukommen. »Oh, okay. Nochmals vielen Dank. Ich wusste, dass es einen Grund gab, weshalb ich Sie für unsere Fotos ausgewählt habe.«
Olivia streckt ihre halbwegs freie Hand aus, um Beths zu schütteln, aber Beth weicht dieser förmlichen Geste, der Kameratasche und dem Strandstuhl aus und umarmt Olivia stattdessen aufrichtig. Ein Schauder läuft Olivia über die Arme, aber nicht, weil ihr kalt ist. Es ist lange her, seit jemand sie umarmt hat.
»Gern geschehen.«
Die Mädchen stellen sich in einer Reihe neben Beth auf. Sophie hält eine riesige Möwenfeder in einer Hand und die Hundeleine in der anderen, und Jessica eine Tüte Hundekot.
»Mom! Sieh mal, was ich für dich gefunden habe!«, brüllt Gracie lächelnd, aufgeregt.
Sie streckt die flache Hand aus, zeigt ihr das bernsteinfarbene Skelett eines kleinen Pfeilschwanzkrebses.
»Das ist ja toll, Schatz«, sagt Beth.
»Und das ist für Sie.« Gracie streckt Olivia ihre andere flache Hand entgegen.
Olivia hält ihre halbwegs freie Hand Gracie hin, und Gracie lässt einen weißen, fast durchsichtigen, nassen, ovalen Kieselstein in Olivias Hand rollen. Wieder läuft ihr ein Schauder über die Arme.
»Das ist eine Perle«, sagt Gracie.
»Danke«, sagt Olivia. Die Stimme bleibt ihr in der Kehle stecken. »Sie ist wunderschön.«
»Okay, wir müssen los. Nochmals vielen Dank«, sagt Beth, und dann gehen sie alle in Richtung Parkplatz.
»Und wir sprechen uns in sechs Wochen?«, fragt Beth an ihrer Wagentür.
»Sechs Wochen«, sagt Olivia, obwohl es leicht acht werden können.
Beth winkt, verschwindet in ihren Wagen und fährt davon.
Olivia wirft ihre Kameratasche und den Strandstuhl auf die Rückbank ihres Jeeps und steigt ein. Die warme Luft darin legt sich wie eine warme Decke um ihre nackte Haut. Als sie den Jeep zurücksetzt, beginnt es zu regnen. Sie schaltet die Scheinwerfer und die Scheibenwischer ein, froh, dass das Wetter für die Dauer der Porträtsitzung gehalten hat. Sie fährt vom Parkplatz, dankbar für Gracies Geschenk, das sie noch immer in der Hand hält, lächelnd, während sie im strömenden Regen die Hummock Pond Road hinunterfährt.
Als sie nach Hause kommt, legt sie Gracies Stein zu ihrer wachsenden Sammlung in der Glasschale auf dem Couchtisch. Dann schließt sie ihre Kamera an ihren Computer an und holt sich eines ihrer Tagebücher vom Küchentisch. Während die Bilder der heutigen Sitzung auf ihren Computer hochgeladen werden, sitzt sie in ihrem Wohnzimmersessel und denkt über Beth und ihre drei Töchter nach, über ihre Einsamkeit und ihr Buch. Olivia fragt sich, worum es darin geht.
Dann schlägt sie ihr Tagebuch auf und beginnt zu lesen.
EINUNDZWANZIG
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12. April 2005
Den heutigen Tag habe ich wieder in der achten Klasse verbracht. Es hat auf dem Spielplatz angefangen. Wir kamen am späten Vormittag dort an, und Anthony ist sofort zur Schaukel gelaufen, wie üblich. Sein Körper ist viel zu groß für die Kleinkind-Schalensitze, aber er weigert sich, die Schaukeln für die größeren Kinder auch nur auszuprobieren. Daher habe ich ihn in einen der Schalensitze gehoben und meinen Fünfjährigen angeschubst – neben einer anderen Mutter, die ihren Zweijährigen angeschubst hat. Sie hat mich nervös angelächelt und nichts gesagt.
Heute war es draußen endlich warm, und der Spielplatz war überfüllt. Viele Kinder in Anthonys Alter waren
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