Der Liebe eine Stimme geben
schwierigste Aufnahme zuerst. In neunundneunzig Prozent der Fälle handelt es sich dabei um das Foto, auf dem alle vor dem Meer stehen, das eine unerlässliche Foto, für das ihre Kunden gekommen sind, das eine, bei dem ihre Kunden stocksauer sein werden, wenn es nicht perfekt ist. Alle anderen Bilder, Einzelpersonen und Pärchen und Kombinationen verschiedener Leute und Haustiere und Hintergründe, sind ein zusätzlicher Bonus. Das ist die Kür.
Heute wird die Pflicht-Aufnahme leicht sein. Drei wohl erzogene, wenn auch ein bisschen mürrische Mädchen, ein gutmütiger Hund und eine Mutter. Keine weinenden Babys, keine von Zucker aufgeputschten Kleinkinder, die unbedingt ins Meer laufen wollen, keine Vorschulkinder, die sich weigern zu lächeln, keine Vorschulkinder, die sich weigern, irgendetwas anderes zu tun, außer zu lächeln, und ihr Gesicht zu einem starren und absolut unnatürlichen Cheese verzerren, und kein Ehemann.
Auch wenn Paare sich nicht offen hier am Strand vor ihr streiten und Olivia die Auseinandersetzung selbst nie miterlebt, hat sie es inzwischen schon allzu oft gesehen. Ärger, Vorwürfe, Verachtung, die negative Energie zwischen Ehemann und Ehefrau wegen irgendeines Wortgefechts, das sie zuvor hatten, die noch immer schwelt und zwischen ihren Augen und ihrem Lächeln hindurchsickert, so offensichtlich wie der Pickel auf Sophies Wange. Und es gibt kein Tool im Photoshop, mit dem sie das wegretuschieren kann.
Außerdem ist es eine kleine Gruppe, und es ist weitaus leichter, acht offene Augäpfel zu bekommen als zwanzig. Gruppen von zehn und mehr Personen sind wirklich schwierig. Irgendjemand benimmt sich immer daneben, sieht nicht in die Kamera, wirkt fehl am Platz, blinzelt. Vier ist ein Kinderspiel. Sie wird ungefähr sechshundert Fotos schießen, wobei sie damit rechnet, etwa zweihundert Qualitätsbilder zu produzieren, aus denen Beth auswählen kann.
Sie stellen sich in einer Reihe vor der hereinkommenden Flut auf.
»Lächelt. Seht mich an«, sagt Olivia.
Alle tun es, bis auf das mittlere Mädchen.
»Entschuldige, das Mädchen in Blau, wie heißt du?«, fragt Olivia, über ihre Kamera blickend.
»Jessica.«
»Jessica, schenk mir ein breites Lächeln.«
»Das wird sie nicht tun«, sagt Beth. »Sie trägt eine Zahnspange. Sie wird ihre Zähne nicht zeigen.«
»Äh, okay«, sagt Olivia. »Geht es dann vielleicht einfach weniger wütend?«
»Jess, schau glücklich«, sagt Beth.
»Aber das bin ich nicht«, sagt Jessica.
»Dann tu so, als ob, bitte«, sagt Beth mit einem verkniffenen Lächeln, in einem bedrohlichen Singsang.
»Okay.«
Jessica verzieht ihren Schmollmund zu einem Ausdruck leichter Belustigung. Annähernd genug. Olivia knipst drauflos. Sie sieht auf ihr LCD -Display und scrollt die Bilder durch. Pflicht fertig. Und jetzt zur Kür.
Sie knipst die Mädchen in allen möglichen Kombinationen ohne ihre Mutter, mit und ohne den Hund, sitzend und stehend. Sie knipst Beth mit jeder ihrer Töchter, dann jedes Mädchen allein, dann den Hund allein.
»Und jetzt nur Sie, wie wär’s?«, fragt Olivia.
»Ich? Ganz allein?«, fragt Beth.
»Ja.«
»Nein, ich brauche kein Foto von mir allein.«
Auch das hat Olivia gelernt – ein Kunde kann kein Foto kaufen, das nicht existiert. Schieß jedes Foto.
»Machen wir es trotzdem. Sie müssen sich ja nicht jetzt entscheiden, ob Sie es wollen.«
Sie könnte eine Porträtaufnahme für ihren Job gebrauchen, was immer sie macht. Sie ist eine junge, alleinerziehende Mutter. Sie könnte ein Bild für Facebook oder Match.com wollen.
»Okay«, sagt Beth.
»Wunderbar. Sehen Sie mich an. Kinn hoch, Schultern nach unten.«
Klick. Klick. Klick.
Nachdem Olivia mit Beth fertig ist, gehen sie alle hinüber zu den Dünen und lächeln für eine Runde ähnlicher Posen in die Kamera. Obwohl die Pflicht-Aufnahmen zuerst kommen, hat Olivia oft festgestellt, dass die zweite Foto-Runde besser ist. Alle sind entspannter in der neuen Umgebung, und echte Persönlichkeiten und Beziehungen beginnen sich hier herauszukristallisieren. Jetzt kann sie sehen, dass Sophie und Jessica sich nahestehen, dass Sophie reizbar und herrisch ist und dass Jessica sie anhimmelt. Gracie ist albern, und obwohl sie neun oder zehn sein muss, ist sie noch immer Beths kleines Mädchen. Auf den Einzelaufnahmen von Beth vor den Dünen sieht Olivia eine Art Entschlossenheit zwischen einer eingefahrenen Unsicherheit hervorschauen, eine Offenheit in ihrer Haltung, ein authentisches
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