Der Liebe Gott Macht Blau
und außerdem wurden vom Lande reichlich Fleisch und Getreide in die Stadt geliefert.
»Die Hälfte der Bewohner ist ohne Arbeit und versucht sich irgendwie durchzuschlagen. Zweifellos gäbe es hier viel, was zu verbessern wäre. Die Menschen sterben an Hunger und Krankheiten, ich selbst bin ein gutes Beispiel dafür«, erzählte der Engel traurig.
Pirjeri fragte, wie er dieser armen Großstadt bei ihren enormen Problemen helfen könnte.
»Schwer zu sagen, hier gibt es so viel Konservativismus und altbackene hinduistische Traditionen, dass eine Veränderung zum Besseren fast unmöglich scheint.«
Dann charakterisierte Radzu kurz den Hinduismus, erzählte von den Göttern Wischnu und Schiwa und ein paar anderen, von den Versen des Veda und dem Kastensystem. Die Gesellschaft sei in vier Hauptkasten eingeteilt, außerdem gebe es auch noch etliche Unterkasten. Die Priester, die Brahmanen, bildeten die oberste Kaste, die nächste die Soldaten, es folgte die Kaste der Händler, der Bauern und der erfolgreichsten Handwerker. Die Mitglieder dieser drei obersten Kasten stammten aus dem Westen, sie hatten Indien bereits tausendfünfhundert Jahre vor Christus erobert.
»Apropos Christus, sind er und sein Vater mit Ihnen verwandt, gnädiger Herrscher?«, fragte Radzu.
Pirjeri erklärte, dass er nicht mit Gott verwandt sei. Er habe in Finnland als gewöhnlicher Kranfahrer gearbeitet und sei nach einem langwierigen Auswahlprozess zum Stellvertreter Gottes ernannt worden.
»Außerdem habe ich keine Söhne, und nur eine einzige Tochter, aus meiner früheren Ehe. Mirkka hat im Frühjahr Abitur gemacht.«
Engel Radzu fuhr mit seinem Bericht über die Situation in Indien fort und erzählte, dass die ursprüngliche Bevölkerung von dunkler Hautfarbe war und dass jene erwähnten westlichen Eindringlinge sie in die niederste Kaste gedrängt oder, noch schlimmer, ihnen jeden Zugang zu den Kasten verwehrt hatten.
Radzu sprach völlig leidenschaftslos über die Bedingungen in Indien und in Kalkutta. Er zählte all die Ungerechtigkeiten auf, eine immer schlimmer als die andere, und blieb dabei ganz ruhig und gelassen, obwohl er seine eigene Gesundheit und schließlich sein Leben genau durch dieses System verloren hatte. Pirjeri wunderte sich darüber, er geriet in Zorn über die Zustände und erklärte, dass unbedingt eine Veränderung herbeigeführt werden müsse. Die Menschen dürften auf dieser Welt nicht so unendlich leiden.
»Mein Herr und Gott, ich möchte Sie warnen, regen Sie sich nicht auf, so etwas ist hier verpönt. Versuchen Sie zu berücksichtigen, dass in Indien die moralischen Grundsätze des westlichen christlichen Glaubens nicht gelten.«
Kaum hatte Radzu diese sachliche Warnung ausgesprochen, da tauchten auch schon zwei Männer mit drohenden Blicken auf. Sie sagten, sie seien hinduistische Brahmanen, allerdings bereits gestorben, und sie hätten den Befehl, den finnischen Gottesemporkömmling Pirjeri Ryynänen vor ihren Gott zu führen.
Jetzt wurde zügig gehandelt. Die Brahmanen führten Pirjeri und Radzu durch mehrere Gassen zum nächstenHindutempel, der zu dieser Stunde leer zu sein schien. Im schummerigen Innern des Gebäudes wartete jedoch eine eindrucksvolle Gestalt, die Pirjeri als Hindugott vorgestellt wurde und die sich selbst Tsishva nannte. Dieser Gott war mittelgroß und hatte das Gesicht eines Mannes, aber von seiner Gestalt her konnte er auch eine Frau sein, außerdem wuchs aus seinen Schultern eine deutlich erkennbare Mähne.
Die Brahmanen erklärten Pirjeri und Radzu, dass Tsishva zu den wichtigsten Göttern Kalkuttas und ganz Südindiens gehörte. Außerdem sagten sie, dass Pirjeris überraschendes Auftauchen in der Stadt ein Beispiel für schlechten Geschmack und europäische Aufdringlichkeit und nicht dazu geeignet war, die Beziehungen zwischen den Religionen und Göttern zu festigen.
Tsishva nickte dazu verärgert. Er äußerte, dass es unerhört sei, sich in seine Angelegenheiten einzumischen, ein Vertreter des christlichen Gottes habe in Kalkutta nichts zu suchen. Er, Tsishva, sei hier zuständig, das solle Pirjeri anerkennen und die Lösung der Probleme Indiens denen überlassen, die etwas von den hiesigen Gegebenheiten verstanden.
Pirjeri beteuerte, dass es nicht seine Absicht gewesen war, die örtlichen Hindugötter zu beleidigen, ganz gewiss nicht. Aber dennoch konnte er nicht die Augen vor dem himmelschreienden Leid verschließen, das in Kalkuttas Straßen herrschte. Er stellte
Weitere Kostenlose Bücher