Der Liebespaar-Mörder - auf der Spur eines Serienkillers
Vielfalt, die Variabilität. Naturwissenschaftliche Lehrbücher verstand er als Inspiration und Anleitung zum Verbrechen. Er verbrachte Stunden, Tage, Wochen und Monate damit, sich ungeheuerliche Szenarien auszumalen und zu überlegen, wie sie meisterhaft und vor allem fehlerlos durchzuführen waren, welche Mittel er dazu benötigte. Und immer wieder ertappte er sich dabei, wie ihm einzelne zuvor in einem der Bücher gelesene Sätze in den Sinn kamen und ihn auf eine diffuse Art erregten: Verlust des Sprachvermögens. Aussetzen der Atmung und des Pulses. Blaurot aufgetriebenes Gesicht, mit geöffnetem Mund.
5
1. November 1955, Allerheiligen, 10.35 Uhr.
Als Johanna Mehnert zur Andacht niederkniete, murmelte sie nicht das Vaterunser, sondern ein Stoßgebet für
ihren Wilfried. Sie hatte ein ungutes Gefühl, eine dunkle Vorahnung. Ihr Sohn war in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen. Kein Lebenszeichen. Nichts. Die mütterlichen Instinkte schlugen Alarm, weil so etwas zum ersten Mal überhaupt passierte.
Auf dem Heimweg drängte sie ihren Mann Heinz zur Eile. Der 56-jährige Bäckermeister versuchte zu beruhigen. »Der Junge wird bestimmt schon zu Hause warten«, tröstete er. »In seinem Alter schlägt man schon mal über die Stränge. Als ich sechs-undzwanzig war …«
Sie unterbrach ihn abrupt. »Aber Wilfried ist noch nie eine Nacht weggeblieben. Noch nie. Er hätte bestimmt angerufen. Er weiß doch, dass wir uns sonst Sorgen machen. Da muss etwas passiert sein!«
»Was soll denn schon passiert sein? Der Junge weiß sich zu helfen, er ist doch kein Kind mehr.« Mehnert gab sich alle Mühe, aber er klang nicht sonderlich überzeugend.
Und seine Frau wollte sich nicht beschwichtigen lassen. Es war etwas höchst Ungewöhnliches passiert, und alle Gründe und Erklärungen, die ihr dazu einfielen, missfielen ihr. »Vielleicht steht der Wagen jetzt vor der Tür«, versuchte sie sich und ihrem Mann wieder ein wenig Mut zu machen.
Die letzten Meter, ehe sie in die Glockenstraße einbogen, rannten die Eltern beinahe. Doch keine Spur von dem hellblauen Ford M 15, mit dem Wilfried am Abend zuvor noch einmal in die Düsseldorfer Altstadt gefahren war. Und in der Wohnung war er auch nicht. Als nach anderthalb Stunden und unzähligen Telefonaten das Schicksal ihres Sohnes nach wie vor ungewiss war, machte Johanna Mehnert sich auf den Weg. »Ich gehe zur Kripo. Du bleibst hier, falls er sich doch noch meldet«, beschied sie ihren Mann.
Wenig später saß die 53-Jährige einem Beamten in der Kriminalwache des Polizeipräsidiums gegenüber. »Helfen Sie mir! Mein Sohn ist verschwunden! Ich habe das furchtbare Gefühl, dass ein Verbrechen dahintersteckt!« Johanna Mehnert war außer sich.
Doch der Kripomann lächelte. Dass besorgte Mütter oder Väter das vermeintliche Verschwinden ihrer Töchter oder Söhne anzeigten, war nichts Außergewöhnliches. Und dass die Vermissten schon nach kurzer Zeit unversehrt und putzmunter wieder auftauchten, war der Regelfall.
»Immer mit der Ruhe, Frau Mehnert. Wir wollen nicht gleich den Teufel an die Wand malen. Seit wann ist Ihr Sohn denn verschwunden?«
»Seit gestern Abend. Er hat meinen Mann und mich nach dem Theater noch nach Hause gebracht. Dann haben wir ihm unseren Wagen geliehen, er wollte noch in die Altstadt in ein Nachtlokal. Er war mit einem jungen Mädchen zusammen …«
Der Beamte unterbrach sie. »Und wer hat die beiden zuletzt gesehen?«
»Der Wirt vom ›Csikós‹. Das ist so ein Künstlerlokal, wo Wilfried manchmal verkehrt. Er sah die beiden in den Wagen meines Sohnes steigen und davonfahren.«
»Na ist doch klar«, ereiferte sich der Kripobeamte, »sie werden eine Spritztour unternommen haben. Das soll ja schon mal vorkommen, gerade in dem Alter. Meinen Sie nicht auch?«
»Vielleicht. Aber Liesel ist ein anständiges Mädchen. Die beiden wollen bald heiraten.«
»Dann ist es ja noch wahrscheinlicher, dass sie mal ein bisschen allein sein wollten. Sie waren doch auch mal jung.« Der Kommissar grinste. »Warten Sie es ab, Ihr Sohn ist bald wieder da!«
Aber Johanna Mehnert wollte sich nicht einfach so abfertigen lassen, die Sache war zu ernst. »Jetzt hören Sie mir mal zu!«, fuhr sie den Beamten an. »Ich kenne meinen Sohn. Besser als Sie. Und wenn ich Ihnen sage, dass so was überhaupt noch nicht vorgekommen ist, dann kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Geschichten, die mit meinem Wilfried nicht das Geringste zu tun haben …«
Bevor sie
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